Zumindest Selenskyjs Sicht ist ziemlich klar:
Je schneller und je mehr Waffen sie bekommen, desto schneller werden sie Russland besiegen und desto mehr ukrainische Leben können gerettet werden.
Ja, wenn die Ukraine militärisch stärker wäre als sie nunmal ist, oder wenn sie mehr Waffen bekäme als sie realistischerweise bekommen wird, oder wenn der ukrainische Luftraum geschlossen wird, was leider nicht der Fall ist, oder wenn die Russen keine Einnahmen mehr hätten, oder, oder, – dann würden weniger Ukrainer in diesem Krieg sterben.
Hätte, hätte, Fahrradkette, um einen Spruch zu zitieren, der vor ein paar Seiten an jene adressiert war, die vor den Folgen einer längeren kriegerischen Auseinandersetzung gewarnt haben.
Selenskyj will sich nicht damit abfinden, dass die Unterstützung des Westens geringer ausfällt, als sie seiner Ansicht nach sein könnte. Wer hätte nicht Verständnis für Selenskyj? Ich kann ihn zu 100% verstehen und finde richtig, wie er handelt. Sein Argument ist, im Recht zu sein. Ich denke, die allermeisten würden ihm hier uneingeschränkt zustimmen. Die Ukraine und ihr Präsident sind im Recht.
Ein Recht auf etwas zu haben bedeutet, dass die anderen helfen, dieses Recht zu verteidigen. Andernfalls gibt es kein Recht, sondern nur das Recht des Stärkeren. Dieser Grundsatz enthält für mich das stärkste Argument, den Ukrainern zu helfen.
Zweifeln lässt mich hingegen die Frage, ob das Recht der höchste Wert ist und Vorrang vor allen anderen Werten hat. Steht das Recht über dem Leben? Oder ist das Leben wichtiger als das Recht? Wollen wir den Menschen lieber zu ihrem Recht verhelfen oder zum Leben?
Falls das Recht über dem Leben steht: Gilt das in jedem Fall, egal um welches Recht es geht und wie viele Menschenleben dessen Verteidigung kostet? Oder ist es legitim, hier abzuwägen?
Wie triffst Du die Entscheidung zwischen zwei Optionen, ohne über deren wahrscheinliche Folgen zu spekulieren?
Man kann ja Entscheidungen auch auf Grund von Gesinnung und nicht nur aufgrund von Folgeabschätzungen/-beurteilung treffen. Ich bin der Meinung, dass man gerade in der Politik und im Krieg viele Entscheidungen sieht, die aufgrund von Gesinnung getroffen bzw. sehr stark von Gesinnung beeinflusst werden/wurden.
Allerdings ist dein Punkt schon ein Guter, denn auch die "Gesinnungsethiker" werden sich irgendwann Gedanken über die Grenzen ihrer Gesinnungsethik machen müssen. Sie werden sich fragen müssen: "Ist das noch verantwortbar, was ich hier entscheide?" dr_big macht das hier im Thread z.B. bzgl. der Luftraumüberwachung durch die Nato. Als Folge würde er die Nato als Kiegspartei sehen, was er nicht möchte. Hier ist die Grenze der Gesinnung "Wenn die Ukraine Hilfe zur Selbsthilfe möchte, dann gewähre ich sie."
Ein problematischer Punkt der "Handlungen aufgrund von Folgeabschätzung/-beurteilung" ist m.E., dass die Abschätzung der Folgen (im Sinne des Aufstellens einer Liste von Folgen) alleine noch nicht reicht. Man muss die möglichen Folgen im nächsten Schritt auch bewerten und sich klar darüber sein, ob man die Verantwortung für die Folgen auch bereit ist zu übernehmen. Nur so kann man letztlich als "Verantwortungsethiker" entscheiden, welche Handlungen man tatsächlich in der Praxis durchführen möchte.
Problematisch: Diese Bewertung der Folgen, fällt je nach Weltbild oder Wertesystem ggf. anders aus bzw. man kann zu unterschiedlichen Schlüssen kommen: Dem einen sind Demokratie, Völkerrechtsverträge und Tote nicht so wichtig wie die Befreiung von besetzten Gebieten. Ein anderer will unter keinen Umständen Tote akzeptieren und schlägt deshalb Kapitulation vor, während einem Dritten nahezu um jeden Preis die Einhaltung der völkerrechtlichen Verträge wichtig ist und er einen Bruch unbedingt mit voller Härte der freien Welt bestraft sehen will.
Ich bin z.B. der Meinung, das Putin zumindest einen (möglicherweise auch nur einen kleinen) Teil der faktischen Folgen seines Angriffes auf die Ukraine (z.B. die Sanktionen) für wahrscheinlich gehalten hat. Trotzdem hat er die Ukraine angegriffen.
Im Endeffekt wird es immer um eine Balance gehen zwischen Verantwortung und Gesinnung. Möglicherweise ist es sogar so, dass man eine Folgenbewertung/-abschätzung so durchführt, dass sie zur persönlichen Gesinnung passt: Der Verstand rechtfertigt das, was ins eigene Weltbild passt.
Eine Verhandlungslösung, die nicht berücksichtigt, welche Gesinnung die Parteien haben, wird deshalb m.M.n. nicht zum Erfolg führen. Ebenso wird m.E. auch eine Lösung die ausschließlich auf Diplomatie setzt, nicht zum Erfolg führen. Es ist aus meiner Sicht ebenso wichtig, dass sich beide Parteien darüber sicher sind, dass sie die beste Strategie gewählt haben, unter der Berücksichtigung, dass der "Gegner" ebenfalls die für ihn beste Strategie gewählt hat.
Wenn vor diesem Gleichgewicht dann klar wird, dass die eigenen Ziele höchstwahrscheinlich nicht (oder nur zu einem inakzeptablen Preis) zu erreichen sind, dann hat Diplomatie m.E. auch mitten in dem vorliegenden Eskalationsfalle eine Erfolgschance.
So ein Gleichgewicht bzw. so eine Situation kann m.E. durch eine Kombination aus Waffenlieferung/Unterstützung und Sanktionen hergestellt werden. Eine Eskalation in einen offenen Krieg zw. Nato und Russland sehe ich nicht. Hier herrscht m.E. längst das angesprochene Gleichgewicht und eine Abweichung von existierenden Strategien würde eine sofortige Verschlechterung der eigenen Position mit sich bringen. Aus diesem Grund ist m.E. die Kombination von "Verteidigungsfähigkeit erhalten" bzw. Rüstung und Diplomatie auch vergleichsweise erfolgreich. Leider nur "vergleichsweise", denn sobald eine nahezu 100%ige Gesinnungsethik (religiöser Fanatismus z.B.) ins Spiel kommt, fehlt eine entscheidende Voraussetzung für das Abschreckungsprinzip oder überhaupt für "logische Überlegungen" völlig: Ein Mindestmaß an Vernunft bzw. die Angst vor dem höchsten Preis - dem eigenen Tod.
Übrigens: Der Mathematiker Nash hat bzgl. seiner Beschäftigung mit solchen Gleichgewichtsstrukturen (freilich in anderen Zusammenhängen) den Nobelpreis bekommen.
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Dass sich Wähler im großen Umfang in der aktuellen Situation für einen außenpolitischen-Harakiri-Kurs ala PdL entscheidet halte ich für eine völlig Illusion deinerseits.
Ein solches Schreckgespenst aufzubauen hat seine sehr gute Tradition, um den mit Hochrüstung jeweils verbundenen Sozialabbau zu rechtfertigen. Aber den trifft die grüne Wählerschicht bekanntlich weniger essentiell, darüber mache ich mir keine Illusionen.
Erstaunlicherweise hat die Bundeswehr mit dem in den vergangenen Jahren ständig gestiegenen Budget von mittlerweile 50 Milliarden (Familien-, Kinderetat: 12 Millarden, schrumpft um 1/2 Milliarde 2022 u. um die Inflation) in der Vergangenheit den Jugoslawienkrieg und Afghanistankrieg sowie andere Auslandseinsätze in Afrika und im Nahen Osten finanziert. Ich glaube, es gibt kein Ministerium, das mit seinem Budget zufrieden ist und nicht über Mängel klagt, nur gelangen einfach die Stimmen z.B. zu einer Kindergrundsicherung weniger in die mediale Öffentlichkeit als die Bundeswehr.
Ralph Stegner hat gestern bei Lanz auch wieder die (vor dem Angriff Russlands durchaus vorherrschende) Ansicht verbreitet, dass die Ukraine gegen das russische Militär auf lange Sicht keine Chance habe sich zu behaupten.
Er wird dafür auf Twitter nahezu gegrillt, da es mittlerweile keine seriösen westlichen Militärexperten mehr gibt, die diese Ansicht teilen. Falls ich falsch liegen sollte, bitte Gegenpositionen verlinken.
Von der Grundannahme, ob ein militärischer Sieg der Ukraine überhaupt möglich ist, hängt es ganz stark ab, ob eine militärische Unterstützung der Ukraine auf lange Sicht überhaupt sinnvoll ist, d.h. oder ob sie nur den Krieg verlängert und das Leiden der Zivilbevölkerung vergrößert, oder ob sie vielmehr (ausnahmsweise) helfen kann, den Krieg zu verkürzen und das Leiden der Zivilbevölkerung letztlich zu verringern.
Am besten fand ich diesen Satz, den Lobo aus einem Tweet zitiert hat:
»Weil wir nicht genau wissen, was Russland alles als Kriegserklärung verstehen könnte, habe ich mich entschieden die Spülmaschine heute nicht auszuräumen.«
oder den:
»Die Organisatoren der pazifistischen, traditionellen Ostermärsche fühlten sich leider nicht in der Lage, den russischen Angriffskrieg zu verurteilen, aber glaubten trotzdem, für den Frieden zu demonstrieren. Besonders plakativ stellten diejenigen ihre Lostheit zur Schau, die ernsthaft gegen die Nato – und nur die Nato – klare Kante zeigen wollten.«
Ich gehe davon aus, dass Putin Scholz und Schröder klar aufgezeigt hat, dass er bereit ist (taktische) Atomwaffen einzusetzen, sollte es der Westen zu weit treiben. Ich würde im Zweifel nicht auf die Milde Putins hoffen. Schon gar nicht als Deutscher. Aber lauft nur alle Selensky in den totalen Krieg hinterher. Nur dann bitte hinterher nicht wundern und jammern. (Wenn ihr das dann noch könnt)
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Selenskyj will sich nicht damit abfinden, dass die Unterstützung des Westens geringer ausfällt, als sie seiner Ansicht nach sein könnte. Wer hätte nicht Verständnis für Selenskyj? Ich kann ihn zu 100% verstehen und finde richtig, wie er handelt. Sein Argument ist, im Recht zu sein. Ich denke, die allermeisten würden ihm hier uneingeschränkt zustimmen. Die Ukraine und ihr Präsident sind im Recht.
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Ich würde Selenskys Jammern, dass die Unterstützung des Westens zu gering ist, nicht so wörtlich nehmen. Das hat genauso wie bei den sehr fordernden Verlautbarungen seines deutschen Botschafters Melnyik auch einen starken taktischen Charakter.