Zitat:
Zitat von Ausdauerjunkie
Es liegt nur an der Disziplin.
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Zitat:
Zitat von Rather-Lutz
Disziplin ist das eine aber nicht ohne weiteres zu erreichen.
Es muss eben klick in der Rübe machen.
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Ohne der Profi für Ess-Sucht zu sein, aber eben durchaus ein Profi für Sucht: Wenn Essen eine süchtige Dimension bekommen hat (ob das bei dem einen oder anderen Forums Mitglied zu ist, weiß ich nicht, der Eindruck drängt sich mir aber auf), dann gilt hier dasselbe wie bei allen anderen Süchten: Es liegt nicht nur an der Disziplin. Und es muss eben auch nicht nur klick in der Rübe machen. Also natürlich gehört Disziplin dazu und natürlich muss etwas im Kopf passieren, aber das ist eben kein Schalter, der umgelegt werden kann und dann ist alles gut.
Das Institut Sucht Prävention aus Österreich formuliert sehr gut, wie ich finde: "Um der Gefahr der Beliebigkeit des Suchtbegriffes entgegenzuwirken, ist es allerdings notwendig, auch in Zusammenhang mit nicht-substanzgebundenen Süchten eine klare Grenze zu ziehen und darauf zu bestehen, dass Sucht Krankheitscharakter hat. Sucht darf nicht einfach mit Gewohnheit oder Problemverhaltensweisen, die (noch) der willentlichen Kontrolle des Subjekts unterliegen, gleichgesetzt werden. Von Sucht sollte man nur sprechen, wenn das zu Grunde liegende Problemverhalten zu einem eigendynamischen, zwanghaften Verhalten wird."
Psychische Abhängigkeit manifestiert sich bei stoffungebundenen Abhängigkeiten genauso wie bei stoffgebundenen vor allem im "Craving" (Stoffhunger): Unbezähmbares Verlangen nach dem Verhalten, bzw. der Substanzeinnahme, oft begleitet von Ängsten, Depressionen oder Panikattcken.
Ganz sicher muss sich ein Mensch mit einer Ess-Störung genauso wie jemand mit einer stoffgebundenen Abhängigkeit mit den Hintergründen der Sucht befassen. Es würde hier sicherlich zu weit führen, auf die möglichen Hintergründe näher einzugehen und es gibt eine Vielzahl von Sichtweisen, mit denen man dem Phänomen Abhängigkeit begegnen kann. Vielleicht nur ein Beispiel dafür, das die Komplexität des Themas verdeutlicht:
Psychoanalytische Theorien zur Suchtentstehung gehen davon aus, dass die Grundlage zu süchtigem Verhalten in der präödipalen Phase des Menschen gelegt wird (also vor ca. dem 5-6 Lebensjahr, wenn ich mich richtig erinnere). Treten in dieser wichtigen Zeit der Entwicklung vom völlig von der Mutter abhängigen Säugling zu einem sich selbst als eigenständig wahr nehmenden Kleinkind tiefgreifende Störungen auf (z.B. in Form von Versagung von elementaren Befürfnissen), kommt es zum Trauma, das im ganzen weiteren Leben fortwirkt und sich in gestörten Umweltbeziehungen, Ängsten, Aggressionen etc. zeigt. Suchtmittel, bzw. süchtige Verhaltensweisen helfen dem Betroffenen, diese Affekte unter Kontrolle zu bringen, bzw. zu betäuben. Psychoanalytische Ansätze sehen das Suchtmittel, bzw. das süchtige Verhalten als Ersatzobjekt, z.B. für entgangene Zuneigung und Liebe.
Ganz schön kompliziert und es gibt wie gesagt, viele weitere Ansätze, z.B. genetische, soziologische, lerntheoretische und solche aus der Hirnforschung. Allen gemeinsam ist aber, dass es eben nicht nur der Wille ist, was ja nur ein anderes Wort für Disziplin ist.
Suchtentwicklung ist ein dynamischer Prozess, der aus mehreren Phasen mit fließenden Übergängen besteht, von denen der süchtige Gebrauch von Drogen, bzw. das süchtige Verhalten (z.B. Essen) nur eine ist: Einstieg, Fortsetzung, Gewöhnung, Sucht, Ausstieg. Als Ursachen spielen viele verschiedene Faktoren eine Rolle:
1. Die Person selbst, z.B. frühkindliche Entwicklung, Familiengeschichte, Einstellungen, Geschlecht, Alter, Selbstwert, Umgang mit Gefühlen, Stressbewältigungskompetenz.
2. Die Droge (bei stoffgebundenen Süchten), z.B. Konsumdauer, -dosis, -frequenz, pharmakologische Eigenschaften
3. Soziales Umfeld & Gesellschaft, z.B. Familie, Freunde, Sozialstatus, Konsumsitten, Religion, gesellschaftliche Bewertungen
Es ist wohl ein Zusammenspiel von vielen Faktoren, ein ganzes Ursachenbündel.
Wenn die Entstehung einer Krankheit aber so komplex ist, glaubt ihr dann allen Ernstes, dass man nur Disziplin braucht? Oder dass nur ein Schalter umgelegt werden muss, es klick machen muss in der Rübe?
Ganz sicher nicht! Und wenn es so wäre, wäre ich arbeitslos und würde mir glücklich eine neue Beschäftigung suchen.
Und bevor jetzt wieder die schreien, die erfolgreich ihr Gewicht erheblich reduziert haben: Vermutlich könnt ihr euch glücklich schätzen, weil ihr eben nicht pathologisches, sondern nur ungesundes oder unmäßiges Essverhalten an den Tag gelegt habt. Bei mir persönlich hat es auch in erster Linie mit Disziplin zu tun, ob ich abnehme oder nicht. Aber die Mechanismen, die hinter einer Ess-Störung liegen, kann ich aufgrund meiner eigenen Erfahrungen nachvollziehen, ohne stark übergewichtig zu sein: die tiefe Befriedigung, die mir Essen bringt, wenn ich unangenehme Gefühle weg machen möchte, aber auch Essen als Belohnung.
Wenn jemand glaubt, dass sein Ess-Verhalten krankhaft im Sinne einer Ess-Störung ist, tut er gut daran, sich professionelle Hilfe zu suchen. Professionelle Hilfe im Sinne von Psychotherapie, nicht im Sinne von Ernährungsberatung allein.
Wenn man aber nicht krankhaft isst, dann muss man sich natürlich auch einfach mal am Riemen reißen. So wie ich, der es gestern Abend mal wieder nicht gelungen ist.
Sorry, dass es so lang geworden ist!
Schöne Grüße aus der Suchtklinik
J.