Eine alternative Schlussfolgerung für mich ist die Frage, ob dann die gemeinsame Währung tatsächlich unabdingbar ist für ein gutes europäisches Bündnis, bzw. ist die politische Union tatsächlich wünschenswert? (zugegeben, praktisch ist es ja, nur eine Währung zu haben, aber ist es den Preis Wert?)
"Die europäischen Länder" sind höchst unterschiedlich konkurrenzfähig, und bleiben dies auch trotz gemeinsamer Währung. Und so manches Land lebt gar nicht so schlecht vom Tourismus. Wir können nicht überall die gleichen Lebensbedingungen schaffen - uns sollten es gar nicht wollen, finde ich. Gerade wegen der wesentlichen Unterschiede sollte jedes Land seinen eigenen Kurs fahren können.
Das würde bedeuten, jedes Land bekäme wieder seine Währung, seine Zentralbank, seine Wechselkurse, unterschiedliche Inflationsraten, Zölle usf. Über die Währungs-/Zins-/Zollpolitik erfolgen dann die Regulierungen für die einheimischen Wirtschaften usf. Gute Nacht Europa, Gute Nacht Deutschland . Die mit 100 % zu erwartende Rezession würde einen Teil der europäischen Grosskonzerne zwingen, sich an Golfstaaten-Fonds oder China-Konzerne zu verkaufen und mit einer weiteren Deindustrialisierung Europas einhergehen. Die einzelnen Nationen würden damit im Vergleich zu jetzt in noch stärkere Abhängigkeiten geraten.
Es geht nicht um was wir essen, oder wohin wir Ausflüge machen. Es geht mir um die Verfechter eines Europa, wo der Spruch "ich bin Europäer" wichtiger sein soll, als "ich bin Ungar, Bayer, Italiener, ...". In der wichtige Entscheidungen über zukünftige Entwicklungen gemeinsam für alle gefällt werden, unabhängig von den wesentlichen regionalen, nationalen und kulturellen Unterschieden. Das wir den meisten Menschen nicht gerecht.
Das sehe ich anders, sorry. Mir steht ein friedlicher, weltoffener Italiener oder Ungar weit näher als ein Pegida-Schreihals aus Freital. Ein vegetarisch lebender Flensburger verliebt sich wahrscheinlich eher in eine dänische Vegetarierin, als in eine bayerische Schlachthofbesitzerin.
Mit anderen Worten: Unsere Weltanschauungen, unsere Zugehörigkeit zu sozialen Schichten, unser Bildungsstand usw. schaffen Identitäten, die der nationalen Identität zumindest ebenbürtig sind oder in Zukunft sein können.
Im Slogan "Je suis Paris" wurden diese Gefühle sogar zur Parole. Weil wir mit den Parisern gemeinsame Werte teilen, teilen wir auch ihren Schmerz; ob nun Paris, Amsterdam oder Bremen betroffen ist, kurz: die regionale Identität, spielt nicht die Hauptrolle.
Im Slogan "Je suis Paris" wurden diese Gefühle sogar zur Parole. Weil wir mit den Parisern gemeinsame Werte teilen, teilen wir auch ihren Schmerz; ob nun Paris, Amsterdam oder Bremen betroffen ist, kurz: die regionale Identität, spielt nicht die Hauptrolle.
... Mir steht ein friedlicher, weltoffener Italiener oder Ungar weit näher als ein Pegida-Schreihals aus Freital. Ein vegetarisch lebender Flensburger verliebt sich wahrscheinlich eher in eine dänische Vegetarierin, als in eine bayerische Schlachthofbesitzerin.
... die regionale Identität, spielt nicht die Hauptrolle.
Für mich spielt die regionale Identität eine sehr wichtige Rolle, genauso aber gilt für mich, was Arne hier über Europa schreibt. Was für mich keine so große Rolle spielt, ist die nationale Identität.
Mit anderen Worten: Unsere Weltanschauungen, unsere Zugehörigkeit zu sozialen Schichten, unser Bildungsstand usw. schaffen Identitäten, die der nationalen Identität zumindest ebenbürtig sind oder in Zukunft sein können.
Die Hoffnung aus dem letzten Satz kann ich als Utopie gut verstehen. Ich kann sie aber auf Grund geschichtlicher Beispiele (s. Versuch Jugoslavien) und persönlicher Erfahrung nicht teilen. Ich glaube, daß unsere kulturelle Identität sehr stark durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sprachgruppe und zu einer gewissen gemeinsamen Geschichte dieser Menschengruppe bestimmt wird. In Deutschland erkläre ich mir diesen Trend zu "Nationalismus ist verwerflich, wir sind alle Europäer" aus den negativen Erfahrungen damit im 3. Reich. Wenn man aber, wie ich, als Mitglied einer unerwünschten, unterdrückten Bevölkerungsgruppe aufwächst, lernt man, daß die eigene Kultur, Sprache, Geschichte, die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe besonderen Wert hat, die es zu schützen und erhalten gilt. Das ist im richtigen Fall nicht gegen andere gerichtet, aber es ist entscheidend für das Identitäts- und Zugehörigkeitsgefühl, das ein Mensch braucht.
Wenn diese Werte in einer Gesellschaft langsam schwinden oder durch andere ersetzt werden, ist es eben so; ich will auch nicht die absolute Wertigkeit der beiden Ideale gegeneinander abwägen. Von "oben" verordnet, oder erzwungen führt eine "Entnationalisierung" aber sehr wahrscheinlich zu einer starken Abneigung, was man nicht unterschätzen sollte.
Zitat:
Zitat von MattF
Mit Türken teilen wir also wenig.
Kein "Je suis Istambul" auf FB.
Stimmt für mich auch. Wir teilen zwar mit den Türken die Trauer um die Ermordeten, aber sehr wenig kulturelle, historische und gesellschaftliche Gemeinsamkeiten. Nach Aktionen von Boku Haram in Nigeria gibt es auch kein "Je suis Nigeria" o.ä. - es ist uns noch fremder und weiter weg als die Türkei.
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“If everything's under control, you're going too slow.” (Mario Andretti)
Die Zugehörigkeit zu verschiedenen Systemen schließt sich nicht aus, sondern ist immer schon Teil unseres Lebens: "Münchner", "Bayer" und "Deutscher" sein passt ebenso gut zusammen wie "Controller", "Finance & Controlling", "Siemensianer", ebenso gut wie "ich", "Partner", "Vater" sein.
Warum soll das auf der Ebene "Europäer" nicht auch möglich, sinnvoll und größtenteils widerspruchsfrei sein?
Und wenn es Widersprüche und Spannungen gibt, können die doch auch produktiv sein.