Die Mexikaner, Aretha & ich - Teil 3
Ich trete also durch den Regen so vor mich und denke an Holgers Hinweis: "Die ersten 100 Kilometer darfst du gar nicht merken, sonst machst du was falsch." Möglicherweise übertreibe ich es etwas mit der vornehmen Zurückhaltung, aber besser so als umgekehrt. Trotzdem kommen mir Zweifel, ob ich das Richtige tue, denn es überholen mich unfassbar viele. Ab und zu bahnen sich erste zaghafte Anfeuerungsversuche durch die Wand aus Regen. "Viva, México" geht es die nächsten Stunden immer und immer wieder. Die Mexikaner tragen alle die gleiche Teambekleidung, das ist auffällig. Mein Vater erzählt später, dass die besten 200 Mexikaner nach Frankfurt fliegen durften. Wie die Modalitäten genau sind, hat er nicht raus bekommen, aber die Karawane wird sich im nächsten Jahr auf Lanzarote bewegen. So viel ist sicher.
In der letzten Kurve vor "The Hell" steht eine Frau mit kurzen blonden Haaren und ruft: "Hell is waiting for you, boys and girls." Ich tippe, dass sie Englisch-Lehrerin ist. Erstens, weil meiner Erfahrung nach nur diese als Anrede "boys and girls" verwenden, und zweitens, weil sie mich auf der zweiten Runde mit meinem Namen ansprechen wird, obwohl ich die Startnummer mt aufgedrucktem Namen selbstverständlich ordnungsgemäß auf dem Rücken trage. Pädagogin durch und durch, auch in der Freizeit. Es geht an großen und kleinen Stimmungsnestern vorbei. In einem kleinen Ort steht eine Handvoll Männer in einer offenen Garage und Bässe dröhnen aus den Lautsprechern, die auf dem Gehweg stehen. Als ich vorbei rolle, schreien sie den schlimmen Schlager "Verdammt, ich lieb dich, ich lieb dich nicht." Die machen allesamt den Eindruck als seien sie seit dem Vorabend noch nicht wieder nüchtern gewesen. Lustig sind sie trotzdem.
So am Ende des Feldes finden sich doch einige Mexikaner ein. Sie fahren alle äußerst gutes Material und machen sich nichts draus, dass sie die Qualitäten ihrer sündteuren Laufräder gar nicht ausfahren können. Die sind alle unglaublich locker. Einer von ihnen scheint fürchterliche Angst vor europäischen Hitzerekorden zu haben. Er hat zwei große Trinkflaschen in seinen Trikottaschen auf dem Rücken und zwei weitere Flaschen in einer Halterung im Sattel. Wenn der heute nicht ins Ziel kommt, liegt´s nicht an fehlender Flüssigkeit auf dem Rad. Vor dem "Heartbreak Hill" steht mein Familie und ich freue mich diebisch, sie zu sehen. Mein Mann brüllt was von gut in der Zeit, und ich schüttel den Kopf, nein, ich bin bös langsam. Seit Samstag Abend kämpfe ich mit Übelkeit. Die Aufregung, hatte ich gedacht, nach dem Start lässt das bestimmt nach. Leider ist dem nicht so und ich kann auch kein System ausmachen, woran es liegt. Für Analysen ist auch gerade kein guter Zeitpunkt und ich lasse mich den "Heartbreak Hill" von wildfremden Menschen hinauf tragen. Ich kenne keinen und trotzdem sind sie für mich da und treiben mich an. Viele Gesichter geben mir das Gefühl, dass sie an mich glauben und mir nur eins wünschen: dass ich heil ins Ziel komme.
Insbesondere viele Frauen freuen sich, wenn sie eine Geschlechtsgenossin ausmachen und packen bei ihren frenetischen Anfeuerungsversuchen deutlich hörbar einen drauf. Hart ist es in den kleinen Ortschaften, in denen ich ältere Frauen mit schlecht gemachter Dauerwelle sehe, ihre ausgebleichten Kittel um die unförmigen Körper schlotternd. Sie stehen am Straßenrand vor ihrem Haus oder stehen in der Stube und lehnen die verschränkten Arme auf ein untergeschobenes Kissen am offenen Fenster. Und sie rufen: "Du schaffst das, Mädchen, du schaffst das." Manchmal möchte ich am liebsten anhalten und sie nach ihren Lebensgeschichten fragen. Teile der Strecke bin ich auf einer RTF mit Crema gefahren und mir geht nur durch den Sinn: "Durchhalten, Crema, durchhalten." Verglichen mit dem richtigen Leben ist eine Langdistanz nichts. Aber auch gar nichts.
Immer häufiger sehe ich Athleten mit Raddefekten. Eine Mexikanerin sitzt auf dem Boden und hat sich mit dem Rücken an eine hinter ihr stehende Helferin gelehnt. Ich weiß nicht, was passiert ist, aber für die Arme ist offensichtlich Schluss. Da reist sie um den halben Erdball und dann sowas. Es tut mir richtig leid für sie. Während eines kleinen Anstiegs fällt ein Pole einfach um. Ich tippe auf falsch geschaltet und da er gleich wieder aufsteht und auch sein Kumpel zur Stelle ist, fahre ich weiter. Unterwegs treffe ich immer wieder auf Li Sar. Die Frau mit asiatischen Zügen trägt ein langärmeliges Trikot und eine lange Hose und ist so schmächtig, dass ich mich frage, wie so ein zartes Wesen überhaupt 180 Kilometer Rad fahren kann. Der Name kommt mir so bekannt vor und ich überlege, wo cih den schon gehört habe. Es dauert eine ganze Weile, aber dann dämmert´s mir: in einem Buch von Helge Timmerberg über irgendeine seiner zahllosen Reisen. Es gibt nur wenige Bücher, die ich mehr als einmal gelesen habe und die von Timmerberg gehören dazu. Der Mann raucht und trinkt, kifft und kokst und schreibt so gut, dass ich jedes Mal ganz grün im Gesicht bin vor Neid. Jetzt weiß ich, dass es den Namen Li Sar tatsächlich gibt.
Plötzlich taucht mein Support-Trupp wieder auf. Wie schön. Ich halte mal an, ziehe meine Jacke aus und wische dem Kind den Mund ab. "Na," frage ich, "Schokolade gegessen?" Er grinst. Ich auch. Mein Mann sagt wieder, ich sei gut in der Zeit und ich bin bockig: "Nein, ich fahre sch**** Rad und außerdem ist mir ständig schlecht." Alle versuchen mich zu beruhigen und dann rolle ich davon. Das zweite Mal den "Heartbreak Hill" hoch ist an Trostlosigkeit kaum zu überbieten. Das schlauchartige gelbe Tor, in das mit Hilfe eines Püsters Luft gepumpt wird, hat entweder keine Luft mehr oder es hat den Windböen nicht Stand halten können und schlackert anderthalb Meter überm Boden. Zum Rand hin wird es ein bisschen höher und ich rutsche durch. Der Großteil der Zuschauer hat sich wieder den Bratwürsten und Bieren zugewandt und freut sich wahrscheinlich schon auf´s nächste Jahr. Für die ist das heute vorbei.
Dann endlich geht´s Richtung Frankfurt. Mein Kopf ist müde und ich entscheide mich, die Radschuhe nicht auf dem Rad auszuziehen, sondern erst im Wechselzelt. Das mache ich fast nie so. Und genau deshalb ist es wohl auch fatal. Waden gut, Achillessehnen prima, Oberschenkel hervorragend. Und auf dem Weg zum Wechselzelt knickt mein linker Fuß weg. Ich weiß sofort, was Sache ist. Unter dem Teppich befindet sich Kopfsteinpflaster. Für jemanden, der schon barfuß auf einer Teppichkante umknicken kann, ist die Kombination aus Radschuhen und Kopfsteinpflaster Gewalt am eigenen Körper. Für den Moment geht´s, aber ich hadere mit mir, wie ich das nicht vorhersehen konnte. Im Zelt lasse ich mich auf eine lange Holzbank plumpsen und sage als erstes: "Das mache ich nie wieder." Die nette Helferin lächelt milde und meint nur: "Das sagen sie alle an dieser Stelle." Socken und Schuhe an, Kappe auf, Kleinkram in die Hand. Raus. Loslaufen. Geht nicht. Mein linker Fuß schmerzt. Aufs Laufen hatte ich mich gefreut. Nächster Versuch. Geht auch nicht. Ich fühle nicht einmal Panik, sondern nur Mutlosigkeit, die nicht nur meinen Fuß, sondern meinen ganzen Körper zu befallen scheint. Nach ein paar Kilometern im steten Mix aus hinkenden Laufversuchen mit Power-Walking und einer gefühlten Ewigkeit betrete ich mit hängendem Kopf ein Zelt des Roten Kreuzes und denke nur: "Das darf doch alles nicht wahr sein."
*** Fortsetzung folgt ***