Guten Tag!
Früher hatte ich immer Angst vor dem 2. Januar. Denn 1965 wurde an diesem Tag mein Bruder Christian geboren, sechs Jahre vor mir also und damit auserkoren, der von mir heftig geliebte und verehrte große Bruder zu sein. Mein anderer Bruder, C., ist ja nur zweieinhalb Jahre älter und war damit früher eher ein lästiger großer Bruder, weil er nah genug an mir dran war, um Spaß daran zu haben, mich zu ärgern. Früher haben die beiden mich auch viel zusammen geärgert und es war nicht immer ein Spaß, mit zwei großen Brüdern aufzuwachsen.
Christian war mir früher aber stets viel näher als C., zumindest hatte ich das Gefühl. Er liebte wie ich Tiere und hatte später einen Schäferhund, den ich heiß und innig geliebt habe. Ich suchte viel seine Nähe und litt unter den ständigen Streitereien zwischen ihm und meiner Mutter, die ich seit früher Kindheit erinnere.
Ich denke heute, dass ich die erste war, die seinen beginnenden Suchtmittelkonsum bemerkte. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich in sein Zimmer herein platzte, um ihm irgendwas zu erzählen und da saß er auf seinem Bett, mit gläsernem Blick und völlig dicht. Er inhalierte Feuerzeuggas und hörte auch nicht damit auf, als ich herein kam. Er ignorierte mich ganz und gar. Vielleicht, weil er nichts mehr mitbekam, vielleicht aber auch, weil er meinte, dass ich keine Gefahr darstellte.
Er hatte Recht, ich stellte keine Gefahr dar. Denn wenn ich auch nicht wusste, was er da macht und wieso er es tut, so wusste ich intuitiv, dass es etwas Verbotenes ist und dass ich schweigen muss. Ich habe niemandem etwas gesagt. Während ich dies tippe frage ich mich, ob es besser gewesen wäre, wenn ich meinen Eltern davon erzählt hätte, aber vermutlich hätte es nichts geändert.
Wenig später gab es noch mal eine ähnliche Situation, in der es mir rückblickend aber schon um andere Drogen zu gehen schien, als wir bei meinen Großeltern in Süddeutschland zu Besuch waren und Christian ganz oben im Haus ein Zimmer hatte, wohin meine Eltern kaum kamen.
Ich erinnere mich nur an Streit zwischen Christian und meiner Mutter und an endlose Gespräche zwischen ihm und meinem Vater, dann waren die beiden in seinem Zimmer und ich durfte nicht hinein. Und wenn ich mal wieder trotzdem hinein geplatzt bin, war ich verwirrt, meinen Vater und Christian tränenüberströmt zu sehen. Und wieder war es so, dass ich das Gefühl hatte, dass es ein Tabu ist, über das ich mit niemandem sprechen darf.
Christian war nicht älter als 17 Jahre als er auszog. In allen Schulen war er gescheitert und konsumierte Drogen und war kriminell. Wann er mit Heroin anfing, wissen wir nicht.
Er hatte einen wunderschönen Schäferhund, der hieß "Boss" und ich liebte ihn mit Hund noch viel mehr.
Oft war er monatelang nicht bei uns, er sah immer schlechter aus und an einem Tag hat mein Vater C. und mir endlich mitgeteilt, dass er davon ausgeht, dass Christian heroinabhängig ist. Da war ich zwischen 13 und 15 Jahren alt, ich weiß es nicht mehr. Es war ein Alptraum und ich war mitten in meiner Familie ganz allein und der, der mir am nächsten stand, war weit weg und sehr krank.
Ich könnte endlos erzählen von dieser Zeit, mit der ich mich seit Beginn meiner Weiterbildung wieder viel beschäftige, aber das führt ja zu weit hier.
Dann gab es eine kurze Zeit der Hoffnung, Christian verbrachte nach einigen Jahren auch mal wieder das Weihnachtsfest 1985 mit uns. Es sind Fotos von ihm entstanden. Eines davon zeigt ihn mit Boss. Ich habe es vorletzten Sommer mit über die Alpen getragen und nehme es seither auf alle Reisen mit, weil Christian die Welt nicht hat kennenlernen können.
Dann, in einer Märznacht 1986, es war am frühen Morgen, kam mein Vater in mein Zimmer - ich war nach dem Auszug von Christian in seines gezogen - und weckte mich. Er setzte sich zu mir auf das Bett und sagte: "Es ist etwas ganz furchtbares geschehen. Christian ist tot." Mehr hat er nicht gesagt, ist eine Weile bei mir geblieben und hat mit mir geweint und ist dann wieder gegangen.
Bis heute frage ich mich zwei Dinge: Wie kann es sein, dass meine Eltern mich allein gelassen haben mit dieser Nachricht? Ihre 15 jährige Tochter mit der Nachricht alleine lassen, dass ihr innig geliebter Bruder in der Nacht gestorben ist? Und wie konnte ich nur wieder einschlafen, denn das ist es, was ich nach einer Weile tat und deshalb beim Aufwachen einen Moment lang die Hoffnung hatte, dass es nur ein böser Traum sei?
(Weil ich mir gerade diese Fragen stelle, habe ich jetzt eben einfach meinen Vater angerufen und ihn gefragt, warum er mich allein gelassen hat. Es war ein kurzes, aber sehr gutes Gespräch und ich bin froh, dass ich ihn angerufen habe und froh, dass ich euch hier heute von Christian erzähle, weil ich sonst mit ihm nicht darüber gesprochen hätte, zumindest nicht heute.)
Die folgenden Jahre waren schlimm, die seelischen Wunden bei allen Familienmitgliedern katastrophal und wir konnten einander keinen oder kaum Halt geben. Ich glaube, dass jeder von uns sehr isoliert war.
Besonders schlimm waren die Weihnachtsfeste (vor den ersten hatte ich einen regelrechten Horror, weil der Schmerz meines Vaters an diesen Tagen unermesslich war und er ihn nicht verbergen konnte) und der 2. Januar, sein Geburtstag.
Ich weiß noch, wie ich mich nach vielen Jahren freute, als ich erstmalig seinen Geburtstag vergessen hatte. Ich hatte einerseits ein schlechtes Gewissen, aber andererseits habe ich mich gefreut, weil ich dachte, dass ich den Schmerz überwunden habe.
Natürlich habe ich den Schmerz nicht überwunden. Es gibt Momente, da kehrt er zurück und fährt wie ein glühendes Schwert in mein Herz hinein und brennt so lichterloh wie vor 28 Jahren. Ich vermisse Christian bis heute und fühle mich um mein Leben mit ihm betrogen. Am heutigen Tag bin 42 Jahre alt und damit doppelt so alt wie er nur geworden ist. 21 Jahre. 15 Jahre zusammen. Alles viel zu kurz! Nächstes Jahr am 2. Januar würde er 50 Jahre alt werden. Manchmal träume ich davon, wie schön es wäre, wenn er leben würde, die Sucht gar überwunden hätte und wir - zusammen mit seinen Kindern vielleicht, die er dann bestimmt bekommen hätte - im nächsten Jahr seinen runden Geburtstag feiern würden. Ein schöner Traum!
So bleiben mir nur schmenenhafte Erinnerungen. Viele nicht schön, aber manche eben auch schön und glücklich. Und das Bewusstsein, einen zweiten wunderbaren Bruder gehabt zu haben, der ein liebenswerter Mensch war und mir unendlich viel bedeutet hat. Und schließlich, dass selbst die furchtbarsten Dinge teilweise noch Gutes bewirken, denn Christians Tod erst hat zum extrem engen Verhältnis zu meinem anderen Bruder C. geführt. Weil ich einen geliebten Bruder verloren habe, ist mir sehr bewusst geworden, dass nicht alle Menschen alt werden und an meiner Seite bleiben, sondern dass ich froh sein muss um jeden Tag, den ich mit ihnen habe.
Und ich bin auch froh, dass der 2. Januar in diesem Jahr ein Werktag ist und ich hier in der Klinik. Denn mein Herz will heute nirgendwo anders sein als eben bei diesen drogenabhängigen Menschen, die mich an Christians Geburtstag noch mehr berühren als sonst.
Und jetzt meine Bitte an euch: Macht euch alle einen besonders schönen 2. Januar, seid glücklich und fröhlich wie ich es heute auch bin und sorgt so alle mit dafür, dass es ein schöner Geburtstag von Christian ist.
Wie sagt Lutz immer so schön: Danke fürs Lesen!
J.