Am Freitag vor dem großen Rennen bekomme ich zufällig mit, dass die unter FAQs angegebene Zeit für die Wettkampfbesprechung nicht stimmt, sondern diese tatsächlich eine Stunde früher statt findet. Gut, denke ich, gehe ich halt zu der in englischer Sprache. Als meine Eltern aus dem 600 Kilometer entfernten Kiel eintrudeln und das Kind übernehmen, mache ich mich mit der Bahn auf den Weg nach Frankfurt.
Endlich mal wieder in einer kleinen Großstadt unterwegs. Ich fühle mich gleich wie im Urlaub. Das Gefühl verstärkt sich noch als ich in der Eissporthalle eintreffe. Ich sitze mit einer fünfköpfigen Gruppe Schweden aus Stockholm an einem Tisch. Auf dem Rescue-Band von Max zu meiner Linken steht neben seinen persönlichen Daten auch Max´ Mantra: "May the force be with me". Jo, Max, denke ich, das wünsche ich dir auch.
Am Tisch schräg links vor uns sitzt eine Gruppe Mexikaner. Es sieht so aus als würden eher die Männer starten. Die Frauen sind für mitteleuropäische Verhältnisse ganz schön aufgebrezelt: dickes Make-up, bunte Fingernägel aus Acryl und hautenge Klamotten, die nicht aus Funktionsfaser sind. So hübsch gestylt haben sie ihre Arme verschränkt auf den Tisch vor sich gelegt, die Köpfe drauf abgelegt und halten ein Nickerchen. Die Chicas sind so richtig drollig. Danach geht´s zum Römerberg, die Startunterlagen holen. Ich bin immer noch entspannt. Seltsam. Das ändert sich am Samstag.
Mein Mann überprüft die Schaltung, alles ok. Als wir am Langener Waldsee ankommen, rolle ich Richtung Wechselzone - die Kette springt ab. Es ist nicht zu fassen. Nach dem Einchecken lasse ich ein bisschen Luft aus denm Reifen. Hinterrad: Ventil auf, Finger drauf, „pfft, pfft“ -, reicht. Vorderrad: Ventil auf, Finger drauf, „pfft, pfft“ - , Reifen platt. Thomas, der mich eincheckt, ist die Ruhe in Person. Ja, der hatte heute schon einen Polen, der auch ein bisschen betreuungsintensiv war. Ich baue das Vorderrad aus, verlasse die Wechselzone und gehe zum Radservice. Mein Mann meint, ob ich denn wirklich genau gleich viel Luft abgelassen hätte, weil es ja darauf ankäme, wie weit man die Rändelschraube ... Als wir das Rad zu Hause aufgepumpt haben, waren vorn 4,5 Bar drauf. Jetzt weiß ich auch, warum. Von wegen schlecht aufgepumpt, das ist ein Schleicher, sonst nichts. Ja, sagt mein Mann, aber, und dann streiten wir uns fast vor fremden Leuten. Der neue Schlauch ist innerhalb von Minuten drin und ich komme mir vor wie der letzte Ausbeuter als der Monteur-Profi dafür fünf Euro möchte. Mit einem Trinkgeld beruhige ich mein schlechtes Gewissen. Dann gehe ich wieder in die Wechselzone und montiere das Vorderrad. Eigentlich darf man sich dort ja nicht allein aufhalten, aber mich lassen sie trotzdem machen. Ich muss ja unglaublich harmlos aussehen, denke ich noch. Danach geht´s zum Baumarkt, um der Familie ein paar Faltstühle für den langen Tag zu kaufen. Und dann mache ich das, was alle anderen Starter vermutlich auch machen: Sachen packen, Sachen auspacken, Sachen umpacken, Sachen neu packen. Sachen packen auf morgen früh verschieben.
Das Abendessen ist mühsam. Spaghetti mit Tomatensoße gehen immer. Außer heute. Ein Bissen, kauen, kauen, kauen, schlucken. Pause. Mein Mann sagt, ob DNF oder nicht sei gar nicht so wichtig. Aber sich an die Startlinie zu stellen, das würde ihm allerhöchsten Respekt abverlangen. Insbesondere, wo ich doch so ein Angsthase sei. Ja, denke ich, genau darum geht´s. Mein Mann kann ja bekanntlich alles besser als ich und das sofort. Er ist einer von diesen Multi-Begabten, denen alles gelingt, was sie anfassen. Als mein Mann seinen Start aus beruflichen Gründen absagen musste, war mir klar, dass ich einmal die Chance hatte, einen vorzulegen. Und die würde ich nutzen. Den Rest des Abends summe ich "Respect" von Aretha Franklin und weiß, welches Lied mich durch das Rennen tragen wird. Und am nächsten Tag, ja, da wird´s dann richtig abgefahren:
Sonntag Morgen, 4 Uhr, der Wecker klingelt. "Das mache ich nie wieder," grunze ich. Um 4:05 Uhr rüttelt mein Mann mich sanft an den Schultern und meint, ich solle doch mal langsam aufstehen. Ich setze mich, öffne die Augen und antworte nur: "Oh, nee, was ist das denn?" "Was denn," lacht mein Mann, "heute bin ich oOutdoor und das sind meine Outdoor-SachenKlamotten. Du sollst dich bewegen und nicht von meinem Magnetismus angezogen werden. Meinem animalischen Magnetismus." Kopf schüttelnd und kichernd lasse ich mich in die Kissen zurück fallen: Der Mann trägt steinalte Outdoor-Bekleidung aus den 80-ern. Ein blau-kariertes Hemd, das ihm um den Oberkörper schlottert, und eine beige-farbene Hose, die ihre besten Jahre schon Jahrzehnte hinter sich hat. Dazu eine zu kleine rote Kappe mit Ironman-Logo. Übersehen kann man den Mann wirklich nicht.
Eine Viertelstunde später beginnt mein Mann sein Tagwerk und feuert mich an. "Komm, Pantone," sagt er eindringlich, "ein kleines Stück noch, du schaffst das!" Missmutig starre ich auf meine Toastbrotscheibe mit Butter und Quittengelee und konstatiere, dass ich für´s Frühstück zu wenig Zeit eingeplant habe. Deswegen packe ich den Rest ein und wir fahren zur Shuttle-Station am Rebstockgelände. Hinter einemn Mexikaner lassen wir uns auf eine Bank fallen und mir fällt auch nichts iIntelligenteres ein als "Viva México" zu sagen. Dass das ein deutscher Reflex zu sein scheint und ich diesen Ausruf an diesem Tag noch Hunderte von Malen hören würde, ahne ich da noch nicht. Ich lehne mich an meinen Mann und singe ganz leise vor mich hin ... just a little bit ... just a little bit.
Als der Bus vor der Wechselzone zum Halten kommt, sehe ich gerade noch Sebastian Kienle, der mit weit aufgerissenen Augen in die andere Richtung marschiert. Wenn der so nervös ist, darf ich das auch sein, denke ich ein wenig beruhigt. Bevor ich in die Wechselzone entschwinde, gehe ich zu den Waschräumen auf dem Campingplatz. Die junge blonde Dame mit den unfassbar langen Beinen fragt mich auf Englisch, ob ich vor möchte, denn sie habe ja kein Rennen. Ich bin verblüfft, dass jemand so zuvorkommend ist und wir plaudern ein wenig. Wie sich rausstellt, ist es die überaus sympathische Freundin von Clemente Alonso, dem späteren Dritten an diesem Tag. Der Name war mir in der Starterliste aufgefallen und ich erinnere sofort, dass er Spanier ist. Sie wünscht mir viel Glück und ich ihr einen schönen Tag und alles Gute für Clemente.
Mein Mann schließt mich noch einmal fest in die Arme. "Sag´ nichts," bitte ich ihn, "sonst muss ich heulen." Er hält sich fast dran und sagt nur: "Meinen größten Respekt." Dann mache ich mich auf den Weg.
In der Wechselzone steht mein Rad zwischen denen zweier Finninnen. Die Mädels begrüßen mich freundlich und ich registriere, dass der Platz neben mir frei geblieben ist. Pantone, sage ich zu mir selbst, du hast es bis hierher geschafft. Offensichtlich hat die Startnummer 668 Pech gehabt und ist heute nicht dabei. Wie auch immer, du machst jetzt erst mal soweit du kannst. Die Jungs vom Rad-Service pumpen mein Rad auf, weil ich es vor Aufregung einfach nicht hin bekomme. Aber sie amüsieren sich und meinen, es sei kein Problem, schließlich hätten sie den ganzen Morgen nichts anderes getan. Neo an, Tüte Gel in die Hand und den weißen Beutel zum LKW bringen. Thomas vom Bike Check-Inn nimmt mir den Beutel ab, erkennt mich sofort und wünscht mir Glück. In der Nähe des Wechselzeltes kommt eine Helferin, stellt sich wortlos hinter mich und wartet geduldig bis ich mit den Armen in der schwarzen Pelle bin. "Bist du so weit?", fragt sie ruhig. "Ja," antworte ich und sie macht mir den Reißverschluss zu. "Danke," sage ich und drehe mich zu ihr um. Die Frau um die 50 lächelt und meint schlicht: "Gern geschehen." Ich würde hundert Euro wetten, dass sie im sozialen Bereich arbeitet.
Als ich ans Ufer des Langener Waldsees komme, sind die Profis schon gestartet. Badekappe auf den Kopf, Schwimmbrille auf die Nase. Atmen nicht vergessen. Ich stehe ein bisschen verloren im knietiefen Wasser und suche meinen Mann. Keine Chance, ihn auszumachen, es ist einfach zu viel los. Ich prüfe, ob meine Brille dicht ist. Ja, sieht gut aus. Über Lautsprecher höre ich, dass mehr als 200 Mexikaner am Start sind. Ganz schön weiter Weg von Mexiko nach Frankfurt nur für einen Ironman. Und dann, auf einmal, ohne jegliche Vorwarnung und mitten ins Herz: Sie spielen "Respect" von Aretha Franklin. Mir laufen die Tränen und ich fange an zu schwimmen. Kurze Zeit später fällt der Startschuss und ich bin mitten drin.
*** Fortsetzung folgt ***