Arne Dyck triathlon-szene Coach
Registriert seit: 16.09.2006
Ort: Freiburg
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Es war ein harter Tag für mich.
Zunächst lief alles wie am Schnürchen. Ich hatte den Neo bereits bis zu den Hüften an und hörte den Aufruf: "Noch 30 Minuten bis zum Start". Ich habe es gern, wenn alles rechtzeitig geregelt ist und vor dem Rennen keine unnötige Hektik aufkommt. Ich ging zu meinem Rad, steckte meine Radflaschen in die Flaschenhalter, befestigte den Tacho am Lenker und prüfte den Sitz der Radschuhe, die bereits in die Pedale eingeklickt waren und ungeduldig auf mich warteten. Wie zum Abschied strich ich kurz über die Reifen und stellte fest: Das Hinterrad war platt.
Es dauerte einige Sekunden, bis das in meinem Bewusstsein ankam. Ich fahre tubeless. In jedem Reifen befindet sich eine doppelte Portion Pannenmilch, also bestimmt 100 Milliliter. Jeder Reifen ist so dicht, dass ich ihn tagelang ohne Nachzupumpen fahren kann. Das war auch mein Plan: Ich pumpe die Reifen am Tag vor dem Rennen auf und muss dann am Wettkampfmorgen nicht nachpumpen. Kein Stress mit sperrigen Standpumpen in dem Gedränge zwischen den Radständern, kein Ärger mit dem engen und scharfen Ventilloch des Citec-Scheibenrads, Pfeifenkopf-Adapter und diesem ganzen Scheiß. Und jetzt das.
Ich holte das Rad aus dem Radständer und lehnte es am Rand der Wechselzone gegen den Zaun. Ich lieh mir eine Standpumpe, fummelte den Pfeifenkopf-Adapter hervor und machte mich an die Arbeit. Ventil festhalten links, einarmig 6 bar in den Reifen pumpen rechts. Einen Meter über meinem Kopf dröhnte der Lautsprecher erbauliches Ironman-Motivationsgequatsche über mich hinweg. "Beautiful people, twenty minutes to the start!".
Der Reifen hielt die Luft nicht.
Ich lieh mir ein zweites und ein drittes Mal eine Pumpe aus und wiederholte die Prozedur zum zweiten und zum dritten Mal. Das Rad stand bereits wieder raceready im Radständer. Der Reifen hielt nun scheinbar die Luft, aber mit einem Ohr am Ventilloch des Scheibenrads hörte ich es da drin leise zischen. Scheiße!
Mir gingen die Fälle von Sabotage auf Hawaii durch den Kopf. Gleichzeitig ärgerte ich mich unheimlich über mich selbst. Ich bin am Rad ein fast paranoid gewissenhafter Schrauber. Was nicht 100% solide montiert ist, wird wiederholt und in Ordnung gebracht. Ich dulde keinerlei Pfusch an meinen Bikes. Wenn etwas meine kleine Heimwerkstatt verlässt, dann hält das. Und jetzt so etwas.
Viel Zeit blieb mir nicht mehr. Ich entschied, meinen Ersatzschlauch einzuziehen. Mit roher Gewalt bekam ich den Mantel von der Felge, mit roher Gewalt machte ich mich am Ausbau des Tubeless-Ventils zu schaffen. Im sehr scharfkantigen und winzigen Ventilloch der Citec-Scheibe war die Rändelschraube, die komplett mich Pannenmilch eingesaut war, das entscheidende Endspiel.
Ein Zuschauer, offenbar selbst Triathlet, sprach von der anderen Seite des Zauns auf mich ein. "Beruhige Dich!", sagte er, "das schaffst Du". Noch zehn Minuten bis zum Start.
Mit schmerzenden Fingerkuppen und Schnittwunden in den Fingern gelang es mir, das Tubeless-Ventil auszubauen. Mantel wieder drauf, Schlauch einlegen, vorsichtig den strammen Tubeless-Reifen über die Felgenhörner drücken, ohne meinen einzigen Ersatzschlauch zu zerstören. "Bleibe ruhig und arbeite jetzt vorsichtig!", mahnte der Mann von der anderen Seite des Zauns. Er hatte recht. Der Kerl war Gold wert.
Da ich den Neo bereits zur Hälfte an hatte und eine warme Jacke trug, schwitzte ich stark. Gleichzeitig zitterten meine Hände vor Anstrengung und Aufregung. Es war kaum noch jemand in der Wechselzone, fast alle waren bereits zum Schwimmstart gegangen. Eine einsame Standpumpe lehnte unweit am Zaun. Ich pumpte das Hinterrad auf, knackend und knallend sprang der Reifen auf die Felgenschulter – die Luft hielt.
Die Kühle des Thuner Sees von 17°C tat mir gut. Der Himmel war morgenblau und wolkenlos, in der Ferne funkelten die Eisriesen Eiger, Mönch und Jungfrau herüber. Was für eine Kulisse!
Allmählich beruhigte ich mich und schwamm die erste Hälfte mit einer halb fröhlichen, halb grimmigen Mir-ist-jetzt-eh-alles-scheißegal-Zufriedenheit. Anschließend versuchte ich, die Schönheit dieses Tages wahrzunehmen und mich auf die bevorstehenden Aufgaben zu konzentrieren.
Radfahren kann ich. Das ist eine Beschreibung meiner inneren Haltung zu den 180 Kilometern über schöne Hügel und kleine Berge, keine objektive Bewertung. Auf dem Rad passiert mir nichts, das spule ich einfach ab. Fünfeinhalb Stunden durch die Berge sind für mich ein normaler Sonntag. Ich mache das gerne und oft und bin da in meinem Element.
Nach 150 Kilometern zeigte mein Wattmesser 215 Watt im Durchschnitt. Das lag an der oberen Grenze meines Leistungskorridors. Aber ich hatte mich auf den zweiten AK-Platz vorgefahren, wie man mir zurief. Wenn ich offenbar um das Podium mitkämpfe, dann ist auch etwas Risiko gerechtfertigt, solange man keine verrückten Sachen macht.
Bezüglich meiner läuferischen Fähigkeiten war ich recht selbstbewusst. Ich hatte im letzten halben Jahr mein Lauftraining gesteigert und sah das auch in meinen Trainingsleistungen. Durchschnittlich über 70 Laufkilometer pro Woche waren gutes Fundament für den Marathon. Wir sprechen hier ja über die M55-59, wo andere Maßstäbe gelten als in den jungen Altersklassen.
Vorgenommen hatte ich mir eine 5:10er Pace, was ganz grob über den Daumen gedengelt einen Marathon in 3:40 Stunden ergeben sollte. An einem guten Tag könnte ich aber auch schneller laufen.
Alle Bilder, die ich bekommen habe und die mich auf der Laufstrecke zeigen, sehen furchtbar aus. Da schlurft ein dicker alter Mann mit null Kniehub über einen Kiesweg. Ich fühlte mich aber viel besser und übernahm bei Laufkilometer 7 oder 9 die Führung im AK-Rennen. Platz zwei liefe mit einem Abstand von dreizehn Minuten hinter mir, riefen Christian und Yvonne mir zu, von denen Letztere von Peter "remote" aus Lüdinghausen unterstützt wurde, um verlässliche Informationen an mich weiterzugeben. So etwas ist wirklich sehr wertvoll und absolut klasse.
Ich drosselte etwas das Tempo. Denn einerseits gab es bei diesem Vorsprung keinen Grund, ein Risiko einzugehen. Andererseits hatte ich etwas Probleme mit Magen und Darm, die sich zunehmend in den Vordergrund drängten.
Vor dem Schwimmstart hatte ich keine Zeit mehr gehabt, ein Dixie aufzusuchen, da ich mit meinem platten Hinterrad beschäftigt war. Nach zwei Tagen hingebungsvollem Carboloading war ich am Renntag beim Marathon eine geladene Güllepumpe auf zwei Beinen. Einen Dixistop zögerte ich im Rennfieber lange hinaus, was wohl ein Fehler war, der später noch Folgen hatte.
Wenn man den ganzen Tag um jede Minute gekämpft hat, ist das Sitzen in einem Dixi furchtbar. Es ist absurd: Ich hatte vor lauter Anspannung Lust, im Inneren des Klohäuschens sitzend zu schreien und gegen die Tür zu schlagen, um die Anspannung loszuwerden. Gleichzeitig ist die Aufgabe, die dort zu erledigen ist, eine Frage der Entspannung. – So, das muss reichen, nichts wie raus hier!
Nach dem Dixistop ging es mir vom Magen her sofort viel besser. Hurra! Allerdings büßte ich noch eine ganze Weile die reduzierte Aufnahme an Kohlenhydraten. Ich hatte seit Laufkilometer 15 oder 20 eine Art Hungerast, den ich bereits im Kopf spürte und mich etwas neblig fühlen ließ. Besser wäre es gewesen, in der Wechselzone das Darmproblem zu lösen, um während des Marathons eine ungestörte KH-Aufnahme zu haben. An diesem Punkt im Rennen war mein Rennfieber aber stärker gewesen als der voraus schauende Verstand.
Mittlerweile hatte mich ein schnellerer Mann überholt, der, vom siebten Platz aus in den Marathon startend, mit 4:45 min/km vor sich hin meterte und keinerlei Müdigkeit zu verspüren schien. Also Platz zwei, wenn der das durchhält. Auch gut.
Ich lief so schnell ich konnte und verbot mir, auf die Uhr zu schauen. Denn ich wusste, dass ich mittlerweile erheblich langsamer lief, als ich mir vorgenommen hatte. Irgendwann sah ich es dann doch auf der Uhr. Ich schaffte nur noch 5:50 min/km, und das auch noch in einem Abschnitt, den ich als Lichtblick empfand, in dem es wieder besser lief.
Bei Laufkilometer 32 hatte ich noch acht Minuten Vorsprung auf zwei Läufer hinter mir, die sich um den letzten Platz auf dem Podium gegenseitig zerfleischten. Noch zehn Kilometer bis ins Ziel. Das klingt nach einer lösbaren Aufgabe für mich. Aber am aufgeregten Ton meiner Betreuer Christian und Yvonne/Peter erkannte ich, dass es nicht gut um mich stand.
Ich wehrte mich nach Kräften. Mein Magen war wieder gut und allmählich kehrte Energie in meine Laufbeine zurück. Allerdings sprechen wir von Kilometer 36, 37, 38 in einem Ironmanrennen mit 2.000 Höhenmetern auf dem Rad. Da erwartet man keine Wunder mehr von seinen Beinen. Dennoch lief ich jetzt pro Kilometer 20 Sekunden schneller als zuvor. Ich wusste, dass die beiden Männer hinter mir 40 Sekunden pro Kilometer aufholten, aber, mit meiner kleinen Beschleunigung, verdammt noch mal, das muss doch jetzt reichen?!
Bei Kilometer 40.5 standen Christian und Yvonne. Sie waren mir so weit entgegen gegangen, wie eine Absperrung es den Zuschauern erlaubte. Sie hatten eine wichtige Information für mich, die ich so schell wie möglich bekommen sollte.
"Arne, Du hast noch eine Minute Vorsprung, vielleicht weniger! Lauf, lauf, lauf!! Gib alles! Ballere alles raus! Gib Gas, Du schaffst das! Arne, lauf!!!"
Ihr kennt das ja wahrscheinlich alle auf irgend eine Weise. Die Schmerzen, die man dabei hat, kann man sich einen Tag später kaum noch vorstellen. Während des letzten Kilometers spürte ich sie, aber irgend etwas in meinem Kopf legte eine weiche Decke darüber und ließ mich laufen, als hätte es den Marathon davor nicht gegeben. Ich spürte die Qual, aber sie hielt mich nicht auf. Ich lief volles Rohr. Im Ziel weinte ich vor Schmerz, während es immer heißt, man vergießt hinter dem Zielbogen Tränen des Glücks.
30 Sekunden hatte ich in einer 42 Kilometer langen Abwehrschlacht ins Ziel gerettet. Zweiter Platz in der Altersklasse, netterweise mit Radbestzeit der AK.
Für mich ist das sportlich gesehen super. Mit meinem dritten Platz beim IM 70.3 Emilia Romana (ebenfalls mit AK-Radbestzeit) im vergangenen Jahr gehört das trotz verkorkstem Marathon zu meinen besten Ergebnissen. Ich bin kein so talentierter Sportler, dass ich bei internationalen Rennen regelmäßig ums Podium mitkämpfen würde. Es ist aufregend, für diese ehrenvollen Platzierungen zu fighten und am Wettkampftag alles dafür zu geben. Aber macht das auch Spaß?
Wahrscheinlich bin ich noch zu nah dran, um das zu bewerten. Aktuell überwiegen für mich die inneren Bilder aus dem Marathon, und der war einfach eine knallharte Arbeit am Limit meiner psychischen Möglichkeiten. Andererseits: Genau so will man sich doch fühlen nach einem großen Wettkampf, oder nicht?
Kona war für mich kein Thema, das hatte ich bereits vor dem Rennen entschieden. Es hätte aber auch sportlich nicht gereicht. Dass in der AK 55 nur ein einziger Kona-Slot vergeben wurde, ist sicher gewöhnungsbedürftig, aber genau dafür ist das neue Vergabesystem ja da.
Das Ironman-Rennen in Thun hat mich begeistert. Die Strecken sind aus meiner Sicht fantastisch, zumindest bei Sonnenschein. Man schwimmt in Trinkwasser, radelt durch eine tolle Landschaft und läuft über eine wirklich außergewöhnlich schöne und abwechslungsreiche Laufstrecke. Am See entlang, durch Parks, über historische Holzbrücken, in eine Altstadt, an einem smaragdgrünen Fluss. Die Organisation war, soweit ich das beurteilen kann, überall top. Ich kann das Rennen empfehlen. Kleiner Tip: Restaurants scheinen in der Schweiz sonntagabends geschlossen zu haben, ganz böse Falle für den Eisenmann!
Wie kann ich allen danken, die mir geholfen haben? Yvonne, Peter, Christian, Urs, noch ein Peter, aus der Ferne Finian, Jochen, Annette und ganz viele andere, die mir die Daumen drückten oder mich an der Strecke anfeuerten: Ohne Euch hätte ich das alles nicht geschafft. Ich danke Euch allen aus tiefstem Herzen!
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