In meinen Augen ist es vor allem eine fortschreitende Individualisierung, welche die Änderungen in der Lebensweise seit Beginn des Kapitalismus prägen, sieht man mal von den immensen technologisch-wissenschaftlichen Produktivkräften als Hauptmotor ab. Das bedeutet mehr individuelle Selbstbestimmung und (scheinbar) weniger Fremdbestimmung durch religiöse und staatliche Normen. Mit dem Selbstbestimmungsgesetz am 1.11. kann z.B. das Geschlecht und der Vorname abweichend vom Geburtseintrag auf Antrag standesamtlich in DE geändert werden. Unabhängig davon wie ich das finde, es entspricht halt einer Tendenz, bei der Vorteile für die jeweils betroffenen sozialen Gruppen / Schichten und für die Gesellschaft auch immer deutliche spür- und sichtbare Nachteile gegenüberstehen wie Verlust von sozialem Zusammenhalt und Solidarität z.B. Die Konservativen betonen eher die Nachteile, die Progressiven / Woken die Vorteile, die Gesellschaftskritischen und -Analytiker, dass es viel grössere, entscheidendere gesellschaftliche globale Weltkonflikte gäbe wie die zwischen Armut-Reichtum, Klimakrise, Rüstungswahnsinn, Artensterben u.a.
@steinhardtass: danke, besonders dein erster Post trifft meine Gedanken, sehr gut ausformuliert.
Zitat:
Zitat von Klugschnacker
Gewiss, aber was bedeutet "sich selbst" im Fall von Deutschland? Was ist das deutsche "Selbst", das es mit Stolz zu bewahren gälte?
Leben ist Veränderung. Deutschland verändert sich permanent. Bereits vom Deutschland unserer Großeltern sind wir meilenweit entfernt. Vieles von dem, worauf sie besonders stolz waren und was ihnen als besonders erhaltenswert erschienen war, lehnen wir heute aus ganzem Herzen ab.
Wem nichts einfällt, worauf er bzgl. seines Landes stolz sein kann, was er bzgl. seiner Kultur für erhaltenswert hält, tut mir ehrlich Leid - das klingt nach fehlenden Wurzeln und Zugehörigkeit. Ich bin zu 75 % Ungare aus Siebenbürgen, und bin (nur ein paar spontane Beispiele) stolz darauf, aus einem Land zu kommen, das als erster die Religionsfreiheit für alle beschlossen hat (17. Jh.), aus einem Volk, das als erstes der Wandervölker im Donaubecken nicht von der Geschichte verweht wurde, das 300 Jahre den osmanischen Ansturm von Europa abschirmen konnte, das besonders im 20.Jh eine große Zahl an wichtigen Wissenschaftlern der Welt gegeben hat. Als 25 % Deutscher kann ich z.B. stolz sein, zu einem Volk zu gehören, das nach einer üblen Vorgeschichte einen beispiellosen Aufstieg in Wohlstand und Freiheit geschafft hat, das geschafft hat, friedlich die Mauer zu überwinden, das der Welt viele wichtige Philosophen und Wissenschaftler gegeben hat. Und jeder andere darf noch andere Punkte finden. Und jeder findet seine eigene Sprache besonders ausdrucksstark und vielfältig, und pflegt diese durch Schule, Literatur, Journalismus und im Alltag. Ebenso gibt es viele Bräuche und Traditionen, die es mit ausmachen, daß man zu diesem oder jenem Volk gehört, und deren Erhalt diese Zugehörigkeit bestätigt und verfestigt. Dem tut kein Abbruch, daß man auch jede Menge weniger positives sieht, kennt und anspricht.
Zitat:
Zitat von Klugschnacker
Alle Länder verändern sich. Am meisten solche, die wir als menschenfreundlich und lebenswert wahrnehmen. Niemand von uns würde in einem jener Länder leben wollen, wo man versucht, in der Vergangenheit zu leben.
Die Vergangenheit sich bewußt zu machen, und das als Teil der Identität zu sehen heißt noch lange nicht, in der Vergangenheit zu leben. Ich weiß nur wo ich stehe, wenn ich auch weiß, woher ich komme.
Zitat:
Zitat von Klugschnacker
Ich bin nicht stolz auf Deutschland, denn stolz bin ich auf Dinge, die ich selbst geleistet habe. Ich finde aber, dass man hier im globalen Vergleich sehr gut leben kann. Gut finde ich an Deutschland seine Fähigkeit, sich weiterzuentwickeln. In unseren Schulen werden keine Kinder mehr geschlagen und wir fördern die gesellschaftliche Gleichstellung von Männern und Frauen.
Das klingt so, als ob Du nicht mal meinst, Du hättest etwas zu diesen Veränderungen beigetragen, sonst könntest Du Dir auch etwas Stolz diesbezüblich leisten. Passiert das dann ohne Dein Zutun? Ansonsten sind die Beispiele nicht spezifisch deutsch, sondern international über viele Länder ähnlich, gehören insofern in eine andere Kategorie - dafür kann man aber Stolz auf die "westliche Kultur" empfinden, zu der wir im weiteren Begriff auch gehören, und die diese Errungenschaften hervorgebracht hat.
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“If everything's under control, you're going too slow.” (Mario Andretti)
Das bedeutet mehr Selbstbestimmung und (scheinbar) weniger Fremdbestimmung durch religiöse und staatliche Normen. Mit dem Selbstestimmungsgesetz am 1.11. kann z.B. das Geschlecht und der Vorname abweichend vom Geburtseintrag auf Antrag standesamtlich geändert werden.
Unabhängig davon wie ich das finde, es entspricht halt einer Tendenz, bei der Vorteile für die jeweils betroffenen sozialen Gruppen / Schichten und für die Gesellschaft auch immer deutliche spür- und sichtbare Nachteile gegenüberstehen wie Verlust von sozialem Zusammenhalt und Solidarität z.B.
Den Wandel von mehr gesellschaftlicher Konformität früher zu mehr Individualität heute, den Du beschreibst, kann ich nachvollziehen. Jedoch möchte ich eine Ergänzung hinzufügen:
Die sozialen Minderheiten, die heute ihre Rechte einfordern, hat es immer schon gegeben. Homosexuelle Menschen oder Transpersonen waren schon immer unter uns. Sie sind keine Erfindung unserer Zeit.
Was sich geändert hat, ist die Unterdrückung und soziale Ächtung, welche diese Menschen in die Unsichtbarkeit gedrängt hat. Wenn wir wieder mehr gesellschaftliche Konformität wollen, sprechen wir im Kern von einer Wiederkehr dieser Unterdrückung und Ächtung. Menschen sind nunmal verschieden.
Wem nichts einfällt, worauf er bzgl. seines Landes stolz sein kann, was er bzgl. seiner Kultur für erhaltenswert hält, tut mir ehrlich Leid - das klingt nach fehlenden Wurzeln und Zugehörigkeit.
Haha!
Die meisten, die mir das in Diskussionen vorhalten, können Schubert nicht von Schumann unterscheiden und kennen nicht eine Zeile von Goethe. Stolz ist hier dasselbe wie Dünkel.
Mit dem Selbstestimmungsgesetz am 1.11. kann z.B. das Geschlecht und der Vorname abweichend vom Geburtseintrag auf Antrag standesamtlich in DE geändert werden. Unabhängig davon wie ich das finde, es entspricht halt einer Tendenz, bei der Vorteile für die jeweils betroffenen sozialen Gruppen / Schichten und für die Gesellschaft auch immer deutliche spür- und sichtbare Nachteile gegenüberstehen wie Verlust von sozialem Zusammenhalt und Solidarität z.B.
Ich gehe mal davon aus, dass du das nicht meinst, aber hier wird meiner Meinung nach ein Zusammenhang impliziert, den es nicht gibt.
Die Nachteile wie Verlust von sozialem Zusammenhalt und Solidarität ergeben sich nicht aus Gesetzen wie dem Selbstestimmungsgesetz oder allgemein der Rücksichtnahme auf Minderheiten.
Zusammenhalt und Solidarität sind auch zweischneidige Schwerter, die nicht immer gut sind. Wenn Zusammenhalt zu Nationalismus wird, dann ist er schlecht.
Z.b. Solidarität für die Gewerkschaftsbewegung ist immer über die Gruppe hinaus gedacht und international.
Die sozialen Minderheiten, die heute ihre Rechte einfordern, hat es immer schon gegeben. Homosexuelle Menschen oder Transpersonen waren schon immer unter uns. Sie sind keine Erfidung unserer Zeit.
Natürlich. Ich wollte nur gerade das aktuellste Beispiel von Erweiterung der individuellen Selbstbestimmung (Individualisierung) auswählen. Ich hätte auch auf die Frauen und die historische Einführung des Frauenwahlrechtes bis zur kompletten Gleichberechtigung verweisen können. ;-) . Auch das Prozesse der Individualisierung. Und ebenso verlief der gesellschaftliche Hauptkonflikt nicht zwischen Frauen und Männern, sondern zwischen Kapital und Arbeit, IMHO. Manche Feministinnen mögen das anders sehen..
Ich gehe mal davon aus, dass du das nicht meinst, aber hier wird meiner Meinung nach ein Zusammenhang impliziert, den es nicht gibt.
Die Nachteile wie Verlust von sozialem Zusammenhalt und Solidarität ergeben sich nicht aus Gesetzen wie dem Selbstestimmungsgesetz oder allgemein der Rücksichtnahme auf Minderheiten.
Zusammenhalt und Solidarität sind auch zweischneidige Schwerter, die nicht immer gut sind. Wenn Zusammenhalt zu Nationalismus wird, dann ist er schlecht.
Z.b. Solidarität für die Gewerkschaftsbewegung ist immer über die Gruppe hinaus gedacht und international.
Entscheidender ist: In der Nachkriegszeit bis ca. 1970 waren Arbeiter sehr oft ihr ganzes Leben im gleichen Betrieb / Konzern beschäftigt, manchmal noch mit Werkswohnungen. Breite Tarifbindung. Heute viel höhere berufliche Mobilität, geringere Tarifbindung, Prekariat usf. , was Folgen für den sozialen Zusammenhalt hat. Der ehemalige "Klassenkampf" wird scheinbar ersetzt durch "Kulturkampf", "Milieus", "Identitäten" etc. ---> Entsprechende Schwächung der Gewerkschaften, Mitgliederverlust z.B.
Die meisten, die mir das in Diskussionen vorhalten, können Schubert nicht von Schumann unterscheiden und kennen nicht eine Zeile von Goethe.
Spielt keine Rolle. Die einen können Schubert von Schumann nicht unterscheiden, die anderen Sepp Maier von Sepp Herberger, in Bezug auf ihre Bedeutung als mögliche Identifikationsfiguren und Quellen für Stolz sind sie gleichwertig. Wichtig ist, daß es feste Punkte (Personen, Ereignisse, Errungenschaften) in jeder Kultur gibt, die die Menschen verbinden, ihnen eine Identifikation und Zugehörigkeit geben. Dazu muß man nicht Details über jeden Punkt kennen, um deren Existenz als verbindendes Element wahrzunehmen. Was dann persönlich wichtiger ist, ist individuell: der eine weiß viel über Musiker oder Dichter, der andere über Sportler, der Dritte über Physiker oder Entdeckungsreisende, der vierte über Kirchengeschichte - es fügt sich alles zu dem gemeinsamen "wir", das uns prägt, das Deutsche von anderen im positiven unterscheidet.
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“If everything's under control, you're going too slow.” (Mario Andretti)