Nein, das denke ich nicht. Das Kräftegleichgewicht zwischen den Mitgliedern der NATO und den Nichtmitgliedern ist etwas komplexer. Es ist nicht so, dass einem die NATO, wenn sie einen nicht angreift, egal sein kann.
OK, dann verstehe ich das komplexe Bedrohungsszenario für Russland nicht. Wenn du Zeit und Lust hast kannst du mir das erklären.
OK, dann verstehe ich das komplexe Bedrohungsszenario für Russland nicht. Wenn du Zeit und Lust hast kannst du mir das erklären.
Das würde wohl etwas zu weit führen, außerdem gibt es zweifellos kompetentere Menschen als ich zu diesem Thema.
Ein aus meiner Sicht nachvollziehbares Beispiel sehe ich in den Vereinten Nationen (UNO). Die USA sind dort sehr durchsetzungsstark: Sie sind einerseits Veto-Macht und können andererseits über die NATO, deren Mitglieder gerne zusammenhalten, innerhalb der UNO Mehrheiten organisieren.
So können die USA leicht Sanktionen gegen ein Land organisieren, wie zum Beispiel gegen den Irak. Selbst können sie als Veto-Macht jedoch niemals von Sanktionen betroffen werden. Diese Asymmetrie macht es Ländern, die nicht in der NATO sind, schwer, die UNO als faire Vertretung internationaler Interessen anzuerkennen, die für Ausgleich sorgt. Stattdessen haben die Militärbündnisse auch in Friedenszeiten Gewicht.
Das sehen wir auch im aktuellen Fall, wo die NATO gar nicht involviert ist, aber dennoch geschlossen gegen Russland vorgeht. Man spricht sich ab, man koordiniert die Ressourcen, man trifft sich monatlich in Rammstein. Ich kritisiere das nicht, sondern versuche es zu beschreiben.
Hinzu kommen Wirtschaftsbündnisse wie die EU, die unter den Mitgliedern als Friedensprojekt wahrgenommen wird (und auch ist), jedoch für Länder, die ihr nicht angehören, ein Problem sein kann. Dasselbe gilt für andere Wirtschaftsbündnisse.
Russland empfindet es als bedrohlich, wenn Länder aus der ihnen nahestehenden Wirtschafts- und Verteidigungssphäre das Lager wechseln. Es ist deren Recht, das steht außer Frage. Aber es berührt aus russischer Sicht ein Gleichgewicht, das zunehmend zu einer Seite kippt.
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Putin ist insofern indirekt am Drücker, da er große Mengen an Atomwaffen hat und damit droht. Das sind einfach Fakten. Wäre Russland eine Banenrepublik mit ein paar Maschinengewehren und Waffen, wäre die Sache längst Geschichte. Ich denke, dass die Situation Putin-an-der-Wand nicht die allerbeste ist. Ich persönlich traue ihm zu, dass er eines Tages deshalb Atomwaffen einsetzt. Oder so gesagt: es würde mich nicht wundern.
Atomwaffen sind eine nützliche Sache, wenn man verhindern will, dass einen ein anderer Staat angreift.
Aber sie sind militärisch komplett nutzlos, wenn man selbst der Angreifer ist und einen anderen Staat unterwerfen will oder sonst irgendwas mit diesem Staat anfangen möchte.
Deshalb wurden in den letzten 70 Jahren auch keine Atomwaffen mehr eingesetzt, obwohl es unzählige Kriege seitdem gegeben hat, bei denen Länder, die über Atomwaffen verfügen, beteiligt waren.
Die US-Amerikaner haben keine Atomwaffen bei ihrer katastrophalen und verlustreichen Niederlage (zigtausend US-GIs ließen in Vietnam ihr Leben) in Vietnam eingesetzt, sondern haben sich einfach irgendwann, als die militärische Niederlage unausweichlich wurde, aus Vietnam zurückgezogen.
Das Gleiche haben die Russen in einer ähnlichen Situation in Afghanistan getan: auch da jahrelanger Krieg, schwere Verluste auf russischer Seite, weitgehende Isolation in der Staatengemeinschaft, aber Nuklearwaffen wurden auch damals nicht eingesetzt, ebenso wie in den Tschetschenischen Kriegen, von denen der erste schmerzhaft für Russland verloren ging.
Wäre Putin ein Selbstmörder, den sein eigenes Leben, das seiner Familie und das Schicksal seines Landes egal wäre, dann müsste man sich über das Risiko des Einsatzes von Atomwaffen duchaus ernsthafte Gedanken machen, aber das anzunehmen gibt es keinerlei Hinweise.
Putin hängt an seinem Leben, wie man unschwer an seiner grotesken Angst vor Covid sehen kann, ebenso wie an der Tatsache, dass er seit Jahren nicht ohne gleich mehrere Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen auf Auslandsreisen geht. Einen erweiterten Selbstmord durch Einsatz von Atomwaffen wird zumindest dieser Autokrat sicher nicht unternehmen.
...Selbst können sie als Veto-Macht jedoch niemals von Sanktionen betroffen werden. Diese Asymmetrie macht es Ländern, die nicht in der NATO sind, schwer, die UNO als faire Vertretung internationaler Interessen anzuerkennen, die für Ausgleich sorgt. Stattdessen haben die Militärbündnisse auch in Friedenszeiten Gewicht.
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Warum sollten Vetomächte nicht von Sanktionen betroffen werden?
Russland ist Vetomacht in der UNO und hat einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat und ist doch zweifellos derzeit in erheblichem Maße von Sanktionen betroffen.
Sanktionen können auf vielerlei Ebenen verhängt werden.
Die NATO ist ein reines Verteidigungsbündnis und hat noch niemals in ihrer Geschichte einen souveränen Drittstaat mit imperialem Anspruch der Gebietserweiterung angegriffen. Alleine der gemeinsame Wertekanon aller NATO-Länder wird dafür sorgen, dass dies auch so bleibt. Niemand kann sich aus den genannten historischen Gründen ernsthaft von der NATO bedroht fühlen.
Was Russland tatsächlich an der NATO stört, ist dass Beitrittskandidaten als Grundvoraussetzungen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nachweisen müssen, bevor ein Beitritt, dem alle anderen Länder einstimmig akzeptieren müssen, auch nur in Erwägung gezogen wird.
Putin und Russland, so wie er es seit 20 Jahren führt hat viel mehr Angst vor dem Geist der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, weil dieser seine Machtbasis massiv bedroht, als vor irgendeiner fiktiven militärischen Bedrohung durch die NATO. Und das ist auch der wahre Grund, warum er die Ukraine (die nicht mal Beitrittskandidat war) hasst und angegriffen hat: der erkennbare Aufschwung den die Ukraine mit einer immer besser funktionierenden Demokratie und einer zunehmend liberalen Gesellschaft in den letzten Jahren durchlaufen hat, war wegen der engen Verflechtung von Russen und Ukrainern in Kultur und Sprache eine massive Unterminierung der Machtbasis von Putin.
Dazu vielleicht mal ein kleines Gedankenspiel (auch wenn es einige vielleicht als absurd abtun, aber vlt. kann man ja mal kurz drüber nachdenken):
Man stelle sich vor, Russland hätte in den letzten Jahrzehnten sehr gute Beziehungen zu den Staaten in Süd- und Mittelamerika gehabt. Sie hätten sich darauf geeinigt, ein Militärbündnis abzuschliessen und hätten daraufhin z.B. in Mexiko, an der Grenze zu den USA einen Militärstützpunkt installiert, wie die USA/Nato es z.B. in Polen (und anderen Ländern) getan haben.
Würde die USA das einfach tolerieren? Würden sie sich bedroht fühlen? Falls ja, was würden sie ggf. dagegen unternehmen?
PS: Achtung, dies dient in keinster Weise zur Rechtfertigung dieses schrecklichen Angriffskrieges. Ich verurteile das auf Schärfste und hoffe, dass alle verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Dies nur vorab, bevor man hier noch als "Russland Versteher" abgestempelt wird - schlimm genug dass man es mittlerweile dazu schreiben muss
Würde die USA das einfach tolerieren? Würden sie sich bedroht fühlen? Falls ja, was würden sie ggf. dagegen unternehmen?
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Die USA ist an der Beringstraße gerade mal 85km von Russland entfernt. Hinzu kommt, dass Russland einerseits über reichlich bestückte Atom-U-Boote verfügt sowie russische Hyperschallraketen ohnehin seit längerem problemlos US-Gebiet erreichen können, so dass ohnehin seit mindestens zwanzig Jahren ein schleichend gewachsenes und durchaus konkretes Bedrohungsszenario der USA durch russische Raketen besteht.
Natürlich machen sich die Verantwortlichen in den USA zweifellos sehr ernsthafte Gedanken, auf welchen Wegen sie diese unmittelbare Bedrohung reduzieren könnten, aber der Gedanke, dass die USA prophylaktisch in andere Länder einmarschiert um die Stationierung von Raketen, die die USA erreichen können, dort zu unterbinden (ein solches Vorgehen der USA hattest du wohl bei deinem hypothetischen Beispiel im Hinterkopf), wie es im Szenario der Kuba-Krise bestand passt in das aktuelle Zeitalter von Hyperschallraketen nicht mehr.
Konventionell kann ohnehin kein Land die USA ernsthaft militärisch bedrohen und die Raketenbedrohung gibt es nunmal schon
Die NATO ist ein reines Verteidigungsbündnis und hat noch niemals in ihrer Geschichte einen souveränen Drittstaat mit imperialem Anspruch der Gebietserweiterung angegriffen. Alleine der gemeinsame Wertekanon aller NATO-Länder wird dafür sorgen, dass dies auch so bleibt. Niemand kann sich aus den genannten historischen Gründen ernsthaft von der NATO bedroht fühlen.
Ich habe ja versucht zu beschreiben, wie die Aufteilung in Interessenssphären funktioniert und warum Putin sich davon bedroht fühlen könnte. Ob es sich aus Putins Sicht tatsächlich so verhält weiß ich nicht.
Zitat:
Zitat von Hafu
Was Russland tatsächlich an der NATO stört, ist dass Beitrittskandidaten als Grundvoraussetzungen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nachweisen müssen, bevor ein Beitritt, dem alle anderen Länder einstimmig akzeptieren müssen, auch nur in Erwägung gezogen wird.
Putin und Russland, so wie er es seit 20 Jahren führt hat viel mehr Angst vor dem Geist der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, weil dieser seine Machtbasis massiv bedroht, als vor irgendeiner fiktiven militärischen Bedrohung durch die NATO. Und das ist auch der wahre Grund, warum er die Ukraine (die nicht mal Beitrittskandidat war) hasst und angegriffen hat: der erkennbare Aufschwung den die Ukraine mit einer immer besser funktionierenden Demokratie und einer zunehmend liberalen Gesellschaft in den letzten Jahren durchlaufen hat, war wegen der engen Verflechtung von Russen und Ukrainern in Kultur und Sprache eine massive Unterminierung der Machtbasis von Putin.
Da weißt Du mehr als ich: Was Russland tatsächlich an der NATO stört, wovor Putin am meisten Angst hat, wen er hasst und warum. Hat er sich mal auf diese Weise geäußert?