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Zitat von HerrMan
Noam, trithos, Nepomuk, svmechov, ich bin inhaltlich ganz bei euch. Ich vermute, dass ihr alle wie ich auch diesbezüglich einen radikalen Wandel durchlebt habt die letzten Wochen, oder?
Kann es sein, dass wir uns das alles ein wenig zurecht backen, weil die mit hoher Wahrscheinlichkeit bald völlig zertrümmerte Ukraine der Garant für unsere weiteren fetten Jahre ist? Etwas Wohlstandsverlust, aber mehr wird uns wohl nicht passieren...
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Ich kann natürlich nur für mich sprechen und kann Deine erste Frage nur bejahen: ich habe mir sehr lange sehr intensiv Gedanken gemacht und bin insbesondere nach Gesprächen mit Ukrainer*innen zu meiner Haltung gelangt. Es ist indessen nicht das erste Mal, das ich meiner ansonsten pazifistischen Haltung auf politischer Ebene abtrünnig werde: in den frühen 90ern haben wir ich denke so zwei Jahre lang Spenden aquiriert, Kaffee vertickt, Spuckies geklebt und Soliparties gemacht um Geld zu sammeln unter der Überschrift Waffen für El Salvador.
Auch im privaten habe ich den friedlichen Pfad exakt zweimal verlassen: das erste Mal wurde mein Sohn angegriffen; da habe ich ohne Umweg über das Frontalhirn total thalamusgesteuert dem Angreifer mit der Faust in die Visage. Dann bin ich mit Max abgehauen.
Das zweite Mal wollte bei einer Radtour ein Autofahrer mich töten, indem er mich vorsätzlich geschnitten hat und dabei das V-Wort nebst üblem Adjektiv aus dem Fenster brüllte.
Dem bin ich nach und habe ihn an einer der nächsten Ampeln gestellt, die Fahrertüre aufgerissen und ihn geprügelt. Mit der Faust. Zum Glück hat mein mir nachgeeilter Mann nicht versucht, mich aufzuhalten. Das wäre vollkommen sinnlos gewesen.
Das sind keine Stefanie-Heldengeschichten und ich bin darauf auch nicht sonderlich stolz. Klug war beides auch nicht, weil ich nominell in beiden Situationen deutlich unterlegen war. Dennoch ist mir das Bewusstsein um ein gewisses Maß an Wehrhaftigkeit durchaus wichtig.
In sofern: ja, als ehemals linksradikale Bazille, die mit zunehmendem Erwachsenwerden über die Jahre immer mehr diplomatisch und grün wurde, musste ich mich hier schon auch etwas winden, um mich so eindeutig der Forderung der Ukraine nach Unterstützung mit militärischem Gerät anzuschließen. Ich hatte es mir doch auch sehr bequem gemacht in den letzten Jahren.
Aber die Situation erscheint mir so klar und eindeutig, dass das Ausbleiben der Unterstützung aus meiner Sicht nichts anderes ist als unterlassene Hilfeleistung.
Zu Deinem zweiten Punkt. Ich denke, die meisten von uns dürften klug genug und ausreichend differenziert sein um zuzugeben, dass es uns immer auch um den eigenen Arsch geht.
Selbst die altruistischste aller Taten dient zumindest auch demjenigen, der sie ausübt, indem sie ihm das wohlige Gefühl vermittelt, eine gute Tat zu tun. Daran ist auch nichts verkehrt, solange man sich dessen bewusst ist.
Natürlich geht es mir bei meinem Wunsch nach Unterstützung der Ukraine auch um mich.
Zunächst entspricht es einfach meinen Idealen, meiner Überzeugung, dass demjenigen, der um Hilfe bittet, diese gewährt werden möge.
Zum zweiten widerspricht es im selben Ausmaß meinen Idealen und Überzeugungen, anderen Menschen zu sagen, was sie zu tun und zu lassen haben. Am schwersten fällt mir das bei meinem Sohn. Aber ich lasse auch ihn jetzt mit 22 zumeist gewähren gemäß dem Leitsatz Rat und Kommentar bitte nur, wenn darum gebeten wird.
Und nun das dritte, das eigentlich das wichtigste ist und auf das Du in Deinem Beitrag, wie ich ihn verstehe, hinauswolltest; ich spreche abermals nur für mich - andere mögen das anders sehen.
Ja. Die Ukrainer*innen kämpfen dort in ihrem Land nicht nur für ihre Freiheit, ihr Land und ihr Leben, sondern halten in Wahrheit auch für uns den Arsch hin.
Bei der von ukrainischen, syrischen und georgischen Berliner*innen sowie Geflüchteten veranstalten Demo am Samstag wurde unter anderem skandiert: heute wir, morgen Ihr. Ist doch klar. Sollte die Ukraine sich ergeben, dann ist es doch damit nicht getan. Dass Russland expansionistische Ziele verfolgt, wissen wir seit Tschetschenien, seit Georgien und spätestens seit 2014.
Wenn dieser Coup gelingt, dann ist es doch damit nicht getan.
Insofern: ja. Deine kritische Anmerkung hat ihre Adressatin in meiner Person zumindest nicht verfehlt. Es wäre arrogant, dumm und vor allem gelogen, wenn ich behauptete, es ginge mir nicht auch um mich.
Auch meine Registrierung bei der Ärztekammer als Gynäkologin für die Ukraine hat zumindest auch egoistische Motive: sie hilft mir ebenso wie das Verfassen dieses Textes dabei, die Ratlosigkeit und die Hilflosigkeit angesichts der Geschehnisse ein bisschen besser zu ertragen.
Chapeau, wenn Du bis hierhin gelesen hast, wer auch immer Du bist.