Vielleicht kann ich zu dem Aspekt etwas beitragen, in welchem Sinne Menschen zur "Transzendenz" neigen. Speziell zu dem Aspekt, dass wir davon überzeugt zu sein scheinen, dass unsere eigene Existenz etwas mit dem Sinn oder Seinsgrund der Welt zu tun hat.
Ein Schlüssel liegt in der Evolution des Gehirns. Das Gehirn war in den vielen hundert Millionen Jahren seiner Entwicklung nie ein Organ zur Erfassung der objektiven Wirklichkeit. Stattdessen war es stets nur ein Organ für die sinnvolle Erfassung von Sinneseindrücken. Das prägt uns bis heute.
Deutlich wird das, wenn man einfachere Tiere betrachtet. Sie verfügen nur über solche Sinneswahrnehmungen, die direkt mit dem eigenen Überleben zusammenhängen. Eine Zecke etwa kann nur einen einzigen Geruch wahrnehmen, nämlich den von Buttersäure im Schweiß von Säugetieren. Dieser Reiz wird beantwortet mit einer Reaktion: Die Zecke lässt sich bei der Wahrnehmung dieses Geruchs von ihrem Ast fallen und krabbelt los in Richtung zunehmender Wärme, ins Fell des Säugetiers.
Damit möchte ich ausdrücken: Die Wahrnehmung ist auf solche Umweltaspekte begrenzt, die das Tier direkt etwas angehen, im Hinblick auf das eigene Überleben. Alle Wahrnehmungen haben für das Tier eine unmittelbare Bedeutung. Es gibt keine unnützen Wahrnehmungen. Einfache Tiere sehen sich stets im Zentrum der sie umgebenden Welt, denn sie nehmen nur Dinge wahr, die eine Bedeutung für sie haben.
Ein Frosch verhungert in einem Haufen toter Fliegen, denn seine Wahrnehmung ist auf lebende, sich charakteristisch bewegende Fliegen programmiert. Allein sie lösen im Gehirn das richtige Reaktionsmuster aus.
Wir Menschen verfügen dank des Großhirns, das sich in der Evolution erst als letzte Schicht auf älteren Hirnteilen bildete, über größere Gaben. Darunter liegt aber das Zwischenhirn, das wir nach wie vor in vielerlei Hinsicht mit den Tieren gemeinsam haben. Es steuert unsere Instinkte.
Auf der Ebene des Zwischenhirns funktionieren wir entsprechend ähnlich wie die Tiere. Das merken wir, wenn wir nachts auf einem dunklen Waldweg plötzlich ein Knacken neben uns hören. Wir sind sofort überzeugt davon, dieses Geräusch auf uns zu beziehen, und uns in unmittelbarer Gefahr zu wähnen: Da ist jemand, und das ist gefährlich! Es kostet größere Anstrengungen durch das Großhirn, uns diesen Instinkt wieder auszureden und uns zu beruhigen.
Kurz: Auf der Ebene unserer Instinkte denken wir aus evolutionären Gründen, die Welt um uns herum hätte etwas mit uns selbst zu tun. Aus Sicht eines Froschs und seiner Version "der Welt" ist das auch korrekt, denn er nimmt nichts wahr, was ihn nichts angeht. Bei uns Menschen stimmt das aber nicht mehr. Das lehrt uns die Verstandesebene des Großhirns.
Es gibt Erkrankungen des Gehirns, bei denen diese Erkenntnisfähigkeit des Großhirns Schaden nimmt. Dann geht die Abstraktionsfähigkeit verloren, die uns die Einsicht ermöglicht, dass nicht alles in der Umwelt mit uns selbst zu tun hat. Die betroffenen Patienten berichten dann beispielsweise auf erschütternde Weise, wie im Haus gegenüber jemand die Fensterläden geöffnet hat. Dass das mit ihnen selbst gar nichts zu tun hat, können sie nicht begreifen.
Kurz: Auf einer tief und seit hunderten Millionen Jahren in uns sitzenden Ebene sind wir davon überzeugt, wir seien der Mittelpunkt der Welt, und alles habe eine Bedeutung, die auf uns Menschen zielt.
So sahen in der vorwissenschaftlichen Zeit auch unsere Weltbilder aus. Der Mensch, als Krone der Schöpfung, Rechtfertigung des gesamten Universums, in der Mitte der Welt. Kreisförmig um uns herum alles andere, also Himmel und Hölle, die Götter und die Sterne.
Es bedurfte mehrerer geistiger Revolutionen in mehreren Jahrhunderten, um uns aus diesem gefühlten Zentrum zu vertreiben. Kopernikus, Bruno, Darwin, Newton, Einstein und so weiter.
Es ist schwer und geistig anstrengend, den innersten Seinsgrund der Welt unabhängig von der Existenz der Menschen zu denken. Irgendwo im Hinterstübchen denken wir, der ganze Laden müsse etwas mit uns selbst zu tun haben. Hunderte Millionen Jahre Evolution des Gehirns lassen sich nicht einfach wegwischen. Zur Not verlagern wir diese Gewissheit in eine transzendente Welt: Dort hinter den Wolken und Sternen wird sich zeigen, dass am Ende doch alles mit uns selbst zu tun hat.
Menschen haben daher kein Bedürfnis nach Transzendenz, sondern ein Bedürfnis danach, der Mittelpunkt der Welt zu sein. Notfalls in einer jenseitigen, transzendenten Version der tatsächlichen Welt. Die Transzendenz ist dabei nebensächlich; sie wird für die nötige Idealisierung lediglich in Kauf genommen. Das zentrale Element ist die Mittelpunktsposition des Einzelnen und der Menschheit.
Disclaimer: Das sind meine eigenen Gedanken dazu, und die können, wie immer, auch falsch sein. Also entspannt Euch.
