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Zitat von MattF
Aber wenn man in deinem Denkmuster bleibt muss man sich fragen wieso sich Religionen durchgesetzt haben? Doch dann nur weil sie anderen Formen der Moralbildung überlegen oder zumindest ebenbürtig sind. Sonst wären die Religionen nach der Aufklärung ausgestorben (zumindest im Westen).
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Das ist eine gute Frage, deren Antworten aber kein Geheimnis sind.
Zuerst eine Einschränkung zu Deinem zweiten Satz: Religionen haben relativ wenig zur Moralbildung beigetragen. Die Moral der Menschen ist über alle Kulturen und Religionen hinweg sehr ähnlich. Die wesentlichen der christlichen 10 Gebote gelten praktisch überall. Wir sind es gewohnt, auf diejenigen Merkmale zu achten, die zwischen den Religionen einen Unterschied machen, und übersehen dabei, dass sich ihre moralischen Konzepte weitgehend ähneln. Gott, Sünde, Strafe, Jenseits, Vervollkommnung und so weiter.
Religionen beeinflussen nicht nur die (feineren Ausgestaltungen) der Moral, sondern auch Lebenseinstellungen und Weltbilder. Sie üben politische und gesellschaftliche Macht aus, die mit Moralfragen nichts zu tun hat. Hier ist der Einfluss der Religionen wesentlich stärker. Das sehen wir an der Geschichte der westlichen und vergleichsweise der islamischen Welt, wenn man sie über die letzten 1000 Jahre vergleicht. Will man die Existenz der Religionen über ihre Auswirkungen erklären, die sie auf die Menschen oder ihre Gesellschaften haben, müsste man vor allem die Machtfrage klären und nicht die nach dem Sinn ihrer moralischen Anschauungen.
Warum konnten und können sich Religionen etablieren?
Das hat natürlich viele Gründe, und ich kann hier nicht alle aufzählen und verteidigen. Ich picke mal zwei heraus, etwas willkürlich, aber vielleicht kommen wir später noch auf andere. Vorsorglich schicke ich voraus, dass wir auf eine Verbindung von genetischen mit sich daraus ergebenden kulturellen Entwicklungen stoßen werden.
1.
Zurück in die Steinzeit. Fragen wir uns zunächst etwas flapsig, warum der Homo sapiens sich durchsetzte und nicht der Neandertaler. Auch das hat viele Gründe, aber ein entscheidender lag in den Gruppengrößen, die sich jeweils als stabil erwiesen. Der Neandertaler lebte in kleinen Gruppen mit wenigen Dutzend, maximal 150 Mitgliedern. Man kannte sich untereinander, hatte direkte soziale Verbindungen, was die Gruppe zusammenhielt. Überschritt die Gruppengröße einen kritischen Wert, wurden diese Verbindungen indirekter und schwächer, und die Gruppe spaltete sich irgendwann.
Der Homo sapiens konnte in wesentlich größeren Gruppen mit stabilem Zusammenhalt leben. Einer der Gründe dafür war die Entwicklung des fiktiven Denkens. Sie ergab sich durch die genetisch gesteuerte Weiterentwicklung des Gehirns. Fiktives Denken bedeutet, sich etwas vorstellen zu können, das nicht oder noch nicht existiert. Das befähigt den Menschen beispielsweise, an die Zukunft zu denken. Ohne diese Fähigkeit wäre der Mensch kaum sesshaft geworden, denn Ackerbau und Viehzucht erfordern ein in die Zukunft gerichtetes planendes Handeln. Fiktives Denken ist jedoch vor allem im sozialen Leben wichtig: Wie wird mein Gegenüber handeln, wenn X oder Y.
Das fiktive Denken hatte Einfluss auf die Gruppengröße. Das ist auch heute der Fall. Um Gesellschaften mit mehreren hundert Millionen Menschen stabil zu halten, bedienen wir uns des fiktiven Denkens. Wir seien eine Nation oder ein Verbund von Nationen und definieren uns über die Menschenrechte oder über die genaue Art der Gottheit, nach deren Regeln wir zu leben trachten, um ewiges Leben zu erhalten. Begriffe wie Nation, Menschenrechte, Gottheit und Jenseits sind allesamt fiktive Konstruktionen, die außerhalb unserer Gehirne nicht existieren.
Weil der Homo sapiens innerhalb seiner Gruppen gemeinsame Leitbilder, abstrakt legitimierte Anführer und gesellschaftliche Rollen entwickeln konnte, waren nun Gruppen von mehreren hundert und mehr Mitgliedern stabil. Homo sapiens konnte sie deshalb entwickeln, weil sein Gehirn zum fiktiven Denken fähig war, und weil er fiktive Vorstellungen und Bilder per Sprache weitergeben und etablieren konnte. Die Grundlage ist eine
genetische Weiterentwicklung, die eine
kulturelle Entwicklung ermöglichte. Man kann sich leicht ausmalen, dass der in kleinen Gruppen lebende Neandertaler gegen die überlegen kooperierenden modernen Menschen schlechte Karten hatte.
Das fiktive Denken ermöglichte nicht nur Bilder zur Definition und Abgrenzung der eigenen Gruppe, zum Beispiel "Volk", "König" und so weiter, sondern bot auch Aberglauben in jeder Form eine Entfaltungsmöglichkeit. Aberglauben ist nichts anderes als fiktives Denken. Verkleidet man einen Affen als Schamanen, halten ihn seine Gruppenmitglieder nicht für ein Wesen, das mit dem Jenseits in Verbindung steht. Bei den zum fiktiven Denken befähigten Menschen ist das ganz anders, sie halten sehr seltsame, abstrakte Geschichten für wahr.
Auf dieser Grundlage entwickelten sich Religionen. Der Entwicklungsfortschritt gegenüber dem Neandertaler bestand
nicht darin, über eine Religion zu Verfügen. Sondern des fiktiven Denkens fähig zu sein, das ein planendes Handeln ermöglichte und für sozialen Zusammenhalt sorgte. Die Religionen fahren quasi Huckepack auf dieser tieferliegenden Fähigkeit der Menschen. Die Frage ist also falsch gestellt, wenn wir uns fragen, welchen Vorteil uns Religionen böten. Religionen sind lediglich eine Begleiterscheinung der menschlichen Fähigkeit zum fiktiven Denken.
Sobald Religionen einmal da sind, entwickeln auch sie sich im Sinne einer kulturellen Evolution. Sie entwicklen sich dabei jedoch nicht – ein häufiges Missverständnis – in die Richtung größeren Wohles für den Menschen. Sie entwickeln sich in diejenige Richtung, die gut ist für Religionen.
2.
Menschenkinder lernen von ihren Eltern. Vor allem durch Beispiel, aber entscheidend auch durch sprachliche Vermittlung. Dass man Krokodile nicht streicheln und die knallroten Beeren nicht essen soll, müssen sie daher nicht selbst herausfinden, sondern sie hören es von ihren Eltern. Das ist ein gewaltiger Vorteil im Rennen ums Dasein, um den uns jede genervte Tigermama beneiden dürfte.
Menschenkinder sind darauf programmiert, den Worten der Eltern unbedingten Glauben zu schenken. Selbst ausgewachsenen Bullshit wie Weihnachtsmänner in fliegenden Rentiergespannen glauben sie mit einer herzergreifenden Bedingungslosigkeit. Auch hier nutzen die Religionen einen sinnvollen Mechanismus in der Entwicklung des Kindes. Was man ihnen in ernstem, feierlichen Tonfall beibringt, vielleicht in einer beeindruckenden Kirche, in der die ganze Gemeinde mit bedeutungsvoller Miene zusammenkommt, werden sie glauben. Und sie werden diesen Glauben später an ihre eigenen Kinder weitergeben.
Nur selten werden Menschen im Erwachsenenalter gläubig, wenn sie nicht als Kinder damit in Kontakt kamen. Glauben hat fast immer seine Wurzeln in der Kindheit, und so gut wie nie in erwachsener Einsicht.
Fazit:
Das ist eine einfache, hier nur skizzierte und lückenhafte Erklärung dafür, warum Religionen existieren, und wie sie weitergegeben werden. Es hat genetische und daran anknüpfende kulturelle Gründe. Heute haben fast alle Kulturen eine Religion. Nicht weil die Religion den Menschen einen großen Vorteil böte, sondern weil alle Entwicklungslinien ausgestorben sind, die nicht zum fiktiven Denken fähig waren. Einmal vorhanden, entwickeln sich Religionen zu ihrem eigenen Vorteil; ebenso ist die Entwicklung der Löwen ausschließlich gut für Löwen, und die Entwicklung der Religionen ist gut für Religionen.
Heute stehen wir unabweisbar vor der schwierigen globalen Aufgabe, die Auswüchse es fiktiven Denkens einzufangen. Zum Beispiel den Nationalismus, den Rassismus und alle anderen, auf nicht zutreffenden fiktiven Bildern beruhenden Ideologien.