Welches sind die Mechanismen, die diese Entwicklung antreiben und ihr eine Richtung geben? Mit anderen Worten: Auf welche Weise entstehen Normen oder Moralbegriffe?
Da gibts aber einen kleinen Unterschied. Im Artikel steht, dass es eine Vermutung ist, wohingegen Du es als Realität hinstellst.
Moral gehört ja zum Teilgebiet Ethik in der Philosophie. Und dort geht man davon aus, das Moral (=Summe der Normen) definiert wird, nicht für alle Menschen gleich definiert wird und einem Wandel unterliegt, der auf Erfahrungen beruht. Ein Beispiel ist das GG, das zwar auf der Weimarer Verfassung basiert, dennoch aber grundlegende Neuerungen aufweist, die auf den Erfahrungen mit dem Dritten Reich basieren.
Ich bin nachwievor der Meinung, dass Moralvorstellungen ausgehend von Axiomen entwickelt werden. Ein weiteres Axiom ist z.B. das unveräußerliche Recht auf Leben. Daraus folgt dann vernünftigerweise das Tötungsverbot für das Individuum sowie das Verbot der Todesstrafe für den Staat.
Ich weiß was jetzt kommt: Woher kommen diese Axiome ?
Dem stimme ich zu. Aber eben nicht über einen deterministischen Prozess. Sondern über Vernunft und kommunikative Aushandlungsprozesse. Mit bewussten Optionen, Wahlmöglichkeiten und Austrittsmöglichkeiten, wenn es einem nicht passt.
Niemand spricht von einem deterministischen Prozess.
Natürlich hat ein Individuum, also eine konkrete Einzelperson, in einem gewissen Rahmen, die Möglichkeit, sich entsprechend oder gegen die herrschende Moral zu verhalten. Ist es das, was Du mir sagen willst? Ich bestreite es nicht.
Mir geht es nicht um das moralische oder unmoralische Handeln des Einzelnen, sondern um die Herkunft der Moral selbst.
Ich bin nachwievor der Meinung, dass Moralvorstellungen ausgehend von Axiomen entwickelt werden. Ein weiteres Axiom ist z.B. das unveräußerliche Recht auf Leben. Daraus folgt dann vernünftigerweise das Tötungsverbot für das Individuum sowie das Verbot der Todesstrafe für den Staat.
Ich weiß was jetzt kommt: Woher kommen diese Axiome ?
Das ist einfach zu beantworten. Stelle Dir eine Gesellschaft vor, in der es keinerlei Gesetze oder Moral gäbe. Alle würden aufeinander eindreschen, sich bestehlen oder umbringen. Innerhalb kürzester Zeit würden die ersten beiden Individuen in diesem Durcheinander anfangen, miteinander zu kooperieren: Ich passe auf Deine Sachen auf, wenn Du auf der Jagd bist, und Du nachher auf meine.
Diese Strategie wäre erfolgreich und würde sich ausbreiten. Immer mehr Menschen schlössen sich zu Gemeinschaften zusammen, die sich gegenseitig unterstützten, und diese Gemeinschaften würden größer und komplexer. Bald müsste man sich auch gegen Schmarotzer zur Wehr setzen, die zwar versprechen, zu kooperieren, dabei jedoch nur ihren eigenen Vorteil suchen. Man wüsste bald, wer seine Schulden nicht zurückzahlt und wer beim Wachdienst immer einpennt. Eine einfache "Moral" entstünde, ebenso ein einfaches Rechtssystem. Das würde sich ganz von alleine bilden, ohne den Rückgriff auf Götter. Die kommen erst nachträglich ins Spiel.
Der Motor dieser Entwicklung wäre zunächst nicht, moralischen Werten wie "gut" und "böse" zu folgen. Sondern es ginge bei dieser fiktiven einfachen Gesellschaft zunächst darum, erfolgreich zu sein, also eine Strategie zu entwickeln, die erfolgreicher ist als die jener Zeitgenossen im Nachbardorf, die fortwährend aufeinander eindreschen und sich bestehlen.
Die moralischen Zuweisungen "Gut" und "Böse" entwickeln sich erst später aus diesen erfolgreichen Strategien. Sie sind also das Resultat und nicht die Ursache einer natürlichen Entwicklung. Außer – ...
Außer wenn sie nicht erfolgreich ist. Dann geht diese Strategie der gegenseitigen Kooperation wieder unter. Folglich erwächst aus ihr auch keine spätere Moral. Letztere wird stattdessen zwangsläufig aus einer anderen, erfolgreicheren Strategie gebildet werden.
Die Axiome, von denen Du sprichst, sind die Grundbausteine einer Strategie (eines Verhaltens), das sich als erfolgreich erwiesen hat. Ich denke, damit liegen wir nah beeinander.
Die Spinne selbst ist aber bereits das Ergebnis einer Wahl. Ihre Art (Spezies) repräsentiert eine von unzähligen möglichen Verhaltensweisen. Ist es eine extrem aggressive Spinnenart, die sich auf alles stürzt, das sich bewegt? Oder ist es eine vorsichtige Art, die in ihrem Versteck bleibt, solange bis sie die Bewegungen in ihrem Netz klar als Fliege identifizieren kann? Nimmt sie es auch mit gefährlich großen Käfern auf, oder geht sie ihnen lieber aus dem Weg?
Nein, es ist nicht das Ergebnis einer Wahl. Es gab niemanden, der eine Entscheidung getroffen hat. Es ist das Ergebnis einer Auslese: was nicht passt, stirbt. So einfach.
Zitat:
Zitat von Klugschnacker
[...]
Heute hältst Du Verhaltensweisen für "moralisch", die Deiner Erziehung, Deiner Kultur und den Genen Deiner Vorfahren entsprechen, und hältst das für Deine eigene Entscheidung.
Den aufgeführten Komponenten stimme ich durchaus zu. Du vergißt immer noch die Freiheit, sich anders zu entscheiden. Es gibt genügend Leute, die sich gegen die Dinge entscheiden, die ihnen ihre Kultur beigebracht hat, die sich gegen die Dinge entscheiden, die ihre Erziehung ihnen beigebracht hat.
Es ist jetzt aber auch nicht so, daß wir Opfer, bzw. Marionetten unserer Gene sind. Der Nachweis ist bisher nicht erbracht! Das sollte mal ein Anwalt in einem Mordprozeß als Argument bringen: "Mein Mandant konnte nicht anders. Sein Vater, sein Großvater und Urgroßvater haben auch Leute umgebracht."
Ganz ehrlich: nicht nur würden die Richter lachend unter dem Tisch liegen, ich glaube auch nicht, daß Du einem Mörder das abnehmen würdest! [Oder im Wettkampf: Ich kann nicht anders als Windschatten fahren. Das ist in meiner DNA .... ]
Abgesehen davon: ich sehe immer noch nicht, wo außerhalb der Menschheit diese Werte sein sollen. Außer blumiger Formulierungen (das soll jetzt nicht abwertend sein! Was Du schreibst läßt sich gut lesen! Als Germanist weiß ich das durchaus zu schätzen. Aber es ist nicht stichhaltig oder auch nur im Ansatz schlüssig) und Projektionen menschlicher Kategorien aufs Tierreich war da nichts zu sehen ....
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Zähne zusammenbeißen und die Brocken runterschlucken!
Geändert von neo (19.09.2016 um 19:44 Uhr).
Grund: Fingerkrebs
Du beschränkst die Mutation und Selektion auf die Sphäre der Gene. Ich habe an Beispielen versucht darzustellen, dass diese Sichtweise nicht vollständig ist. Auch soziale Systeme, Gesellschaften, Kulturen etc. durchlaufen fortwährend Prozesse von Mutation (Veränderung) und Selektion (Begünstigung erfolgreicher Strategien).
Nimm als Beispiel die Idee von der (Chancen-) Gleichheit aller Menschen. Das ist keine genetische, sondern eine kulturelle Sache. Der Westen hängt dieser Vorstellung an, in anderen Kulturen sind Frauen davon ausgenommen, in wieder anderen sind es bestimmte Kasten, die geringere Chancen haben.
Kulturen sind miteinander im Wettbewerb. Kulturelle Ideen konkurrieren miteinander im Ideenpool. Nehmen wir an, die Kultur des Kastenwesens würde sich am besten verbreiten und dadurch die Norm setzen. Dann würdest Du als entsprechend geprägter Psychologe jetzt innerhalb dieses Normensystems argumentieren und dabei moralische Begriffe verwenden.
Was jedoch tatsächlich geschehen ist, ist der Wettbewerb zwischen kulturellen Ideen oder Konzepten. Erst nachträglich erklären wir Wertvorstellungen der erfolgreicheren Variante zur "Moral".
Oh weh. Schon zu viele Leute haben Geld in den Rachen von Dawkins geschoben. Die Memtheorie ist ein populärwissenschaftliches Konstrukt, daß Dawkin erfunden hat, um auf der Welle der momentan so populären Genforschung mitschwimmend, den Leuten die Welt zu erklären. Die Memtheorie ist maximal eine Analogie oder Metapher (man sollte das nie mit den gegebenen Tatsachen verwechseln), die sich gut verkaufen läßt. Zugegebenermaßen schlau gemacht, nicht unoriginell (selbst wenn sie möglicherweise berechnend war) die Namensgebung.
Die wissenschaftliche Substanz ist selbst für den Nagel des kleinen Fingers zu klein .... das ist wirklich Pseudowissenschaft: der empirische Nachweis nicht vorhanden (ebensogut könnte man einen emprischen Nachweis zur Existenz Gottes führen).
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Es ist jetzt aber auch nicht so, daß wir Opfer, bzw. Marionetten unserer Gene sind. Der Nachweis ist bisher nicht erbracht!
Das behaupte ich auch nicht. Gene stecken einen Rahmen ab. Innerhalb dieses Rahmens vollziehen sich kulturelle und individuelle Vorgänge. Ich denke, darin sind wir uns einig.
Ich behaupte folgendes: Dass sich komplexe Verhaltensweisen, denen wir üblicherweise moralisch belegte Begriffe zuordnen, wie Friedfertigkeit, Kooperation, Egoismus, Altruismus etc. von selbst entwickeln.
Ich behaupte ferner, dass sich von alleine eine Balance findet. Wie friedfertig und wie angriffslustig wir als Spezies, als Gesellschaft oder Sippe sind, wird davon bestimmt, wie erfolgreich wir mit diesem Verhalten sind. Nur erfolgreiche Verhaltensweisen können später zur gesellschaftlichen Norm oder Moral werden.
Wir Menschen sind beispielsweise äußerst erfolgreich mit der Strategie, miteinander zu kooperieren. Deshalb haben sich Gesellschaften mit bis zu mehreren hundert Millionen Menschen (!) erfolgreich entwickeln können. Auf der moralischen Ebene erklären wir nun die Kooperation zu etwas moralisch "Gutem".
Betrachten wir nun die Reihenfolge der Geschehnisse: Zuerst erlaubte uns eine genetische Mutation eine Kooperation mit sehr vielen Menschen. (Der Neandertaler kam nur mit Gruppengrößen klar, bei dem direkte persönliche Kontakte den Zusammenhalt herstellten, also nicht mehr als 150 Individuen). Das ist die genetische Ebene. Dann fanden wir über hunderte Generationen nach und nach unter den zahlreichen Möglichkeiten der Kooperation solche, die sich als besonders erfolgreich erwiesen; andere wurden verdrängt. Das ist die kulturelle Ebene.
Die erfolgreichste dieser Strategien stellt heute eine unserer Normen. Wir nennen sie "moralisch" und halten sie für eine persönliche Entscheidung: Kooperation ist etwas moralisch Gutes.
Wo ist die persönliche Ebene? Hier: Der einzelne Mensch kann gegen diese Normen handeln. Aber wie die Kooperation zur Norm wurde, hat nichts mit ihm zu tun. Und meiner Meinung nach auch nichts mit dem Christentum.
Wenn die Kooperation so erfolgreich war, wo war sie in Europa zwischen 1618-1638? Wo war sie 1914-1918? Wo war sie 1939-1945? Wo war sie in Deutschland zwischen 1933 und 1945? Wo war sie in Auschwitz? Wo war sie in Treblinka? .... Wo war die Kooperation am 24. Juli 2010 in Duisburg? Wo war die Kooperation 1911-1994 in Südafrika? Wo war die Kooperation ini den 90er-Jahren in Goražde, in Vukovar und Omarska? Wo war sie im 16.-17.Jhdt. in Mittel- und Südamerika?
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Zähne zusammenbeißen und die Brocken runterschlucken!
Ich weiß was jetzt kommt: Woher kommen diese Axiome ?
Nicht nur das. Warum der ganzen Aufwand mit deinen Axiomen oder Moral, Ethik usw.? Nur, dass ich möglichst viele Weibchen bekomme und den dicksten Braten anschleppe? Da gäbe es doch einfachere Wege.