Du schreibst, dass es sich sowohl beim kritischen Denken als auch beim Glauben NICHT um Wissen handelt, wenn Aussagen über "Metaphysisches" gemacht werden. Kritisches Denken und Glaube teilten sich dieses Defizit.
Mir scheint, Zarathustra trägt hier das Argument vor, dass es sich sowohl beim Glauben als auch bei der Wissenschaft nicht um Wissen handelt.
Wahrscheinlich deshalb, weil Wissenschaft auf einem nicht beweisbaren Satz von Grundannahmen beruht, wie 0+1 = 1. Wissenschaft konstruiert demnach Modelle, und macht Aussagen über diese Modelle. Diese Modelle seien nicht identisch mit der Wirklichkeit.
Aus meiner unmaßgeblichen Sicht braucht man die Religionen gar nicht mit den Wissenschaften vergleichen, um deren Wahrheitsgehalt abzuschätzen. Es genügt, wenn man sich mit den inneren Widersprüchen der Religionen auseinandersetzt, hier mit den inneren Widersprüchen des Christentums. Ich hatte das vor ein paar Seiten bereits erwähnt. Die vier Evangelisten widersprechen sich gegenseitig, außerdem widersprechen sich die diversen christlichen Kirchen und Auslegungstraditionen.
Das führt dazu, dass beispielsweise Ärzte weltweit, über alle Kulturen hinweg, nach den gleichen Methoden behandeln. Ein indischer, ein japanischer und ein englischer Chirurg verstehen sich auf Anhieb. Und zwar deshalb, weil wissenschaftliche Medizin funktioniert. In allen diesen Kulturen war die Heilkunde eine Domäne der Religion, und hat diese komplett an die Wissenschaft verloren.
Ob nun die Wissenschaften oder die Religionen etwas Zutreffendes über die tatsächliche Welt aussagen, mag jeder für sich entscheiden, bevor er mit einer Krankheit zum Arzt oder zum Pfarrer geht. Heute geht selbstverständlich sogar der Papst zu einem Arzt, der nach wissenschaftlicher Methode arbeitet, ganz gleich, wo auf dem Globus er sich gerade befindet.
Im Kontrast dazu liegen sämtliche Religionen miteinander überkreuz. Selbst eng verwandte Religionen wie das Christentum, der Islam und das Judentum sind sich theologisch spinnefeind. Dasselbe gilt für Untergruppierungen innerhalb dieser Religionen, wie Sunniten, Schiiten, Protestanten oder Katholiken. Und in diesen Untergruppierungen liegen die Theologen gegeneinander in den theologischen Schützengräben, etwa Ratzinger gegen Ranke-Heinemann oder Hans Küng.
(Die Ostkirchen und die Westkirchen haben einander im Jahr 1054 n.Chr. gegenseitig verketzert und exkommuniziert. Das betrifft sämtliche Christen. Zum Glück wurde das im Jahr 1965 wieder aufgehoben)
Ich persönlich empfinde die Debatte um Wissen so, dass im Grunde gar nicht über "Wissen" debattiert wird, sondern über eine Karikatur von Wissen. Das idealisierte Konstrukt der Philosophie hat nichts mit dem praktischen Wissen zu tun, welches immer unvollständig sein wird. Es wird aber plötzlich verlangt, dass dieses gedachte und erfundene Ideal zum Prüfstein des tatsächlichen Wissens gemacht wird. Daran muss es notwendigerweise scheitern.
Wissen ist immer unvollständig. Deswegen ist es trotzdem Wissen. Wir wissen heute, dass Blitze nicht von Zeus gen Erde geschleudert werden. Aber wissen wir alles über Blitze? Nein, manche obskuren Phänomene sind noch unerforscht. Das wird auch immer so bleiben. Bedeutet das, dass die Blitze vielleicht doch von Zeus stammen? Wer weiß? Man kann es jedenfalls nicht völlig ausschließen. (Ich höre ein erleichtertes Aufatmen bei der religiösen Fraktion.)
Für mich persönlich klingt es nach einer der vielen Immunisierungsstrategien, nur mit der speziellen Eigenschaft, dass es "philosophisch gelehrsam" klingt. Es ist im Grunde ein Verschieben ins Unerreichbare.
Ich verwende einen einfachen Test, um zu prüfen, ob die Debatte an der praktischen Klärung eines Sachverhalts interessiert ist: Kann überhaupt jemals etwas aus den vorgebrachten Argumenten folgen? Oder besteht die Pointe des Arguments darin, dass niemals etwas folgen kann? Wenn ich bestimmte Argumentationen eine Weile verfolge, habe ich oft den Eindruck, als würde nie irgendwas aus den vorgebrachten Argumenten folgen. Alles bleibt stets vage, unbestimmt, folgenlos.
Es passt nahtlos zur verblüffenden wie unbestreitbaren Tatsache, dass das Pfaffentum seit 2.000 Jahren gut davon lebt, niemals etwas Belastbares vorzulegen. Sobald eine Behauptung in den Bereich der wissenschaftlichen Prüfung zu gelangen droht, ist es plötzlich nicht so gemeint, rein metaphorisch zu sehen, neu auszulegen, oder wird flugs als unerklärlich erklärt (ein Widerspruch in sich).
Ich persönlich habe daher aufgehört, über die Existenz von Göttern zu diskutieren, sondern deren irdische Vertreter ins Visier zu nehmen.
Das 'kritische Denken mit zugrundeliegender grundsätzlicher Annahme' muß man natürlich nicht unbedingt Glauben nennen. Gleichwohl teilt es mit dem religiösen Glauben wenigstens zwei Eigenschaften: zum Einen zumindest eine absolute Aussage über Metaphysisches zu machen und zum Anderen, daß es sich nicht um Wissen handelt.
qbz, Klugschnacker und Jörn haben ja bereits bemerkenswert fundiert Stellung genommen.
Ein Gedanke noch:
Du schreibst, die Annahme, dass metaphysische Thesen menschengemacht sind und man sich insofern ihrer Endgültigkeit nicht sicher sein könne, sei bereits eine Aussage über Metaphysisches. Das erscheint mir etwas spitzfindig, so als würde ich einem kleinen Kind sagen „nein, hinter deinem Vorhang ist kein Gespenst“ - und man würde mir entgegenhalten, das sei eine Aussage über Gespenster (und deren Präsenz). Das stimmt zwar irgendwie und führt doch zugleich am Thema vorbei.
Und dass es sich deiner Ansicht nach wie beim Glauben um “Nichtwissen“ handle, finde ich bemerkenswert, reklamiert doch der (u.a. der christliche) Glaube dogmatisch letztgültiges Wissen für sich.
Ich bin doch sehr erschüttert über den Brand in der Cathédrale Notre Dame. Eine der wenigen Kirchen, die ich für bedeutsam halte.
Ich war schon mehrfach dort. Einmal bin ich extra an Ostern hingefahren, weil ich dachte, es wäre vielleicht etwas Besonderes. Natürlich war ich nicht der Einzige, der diese Idee hatte. Stundenlang musste man draußen anstehen, bis man ins Gebäude gelangte.
Die TV-Bilder mit den hell lodernden Flammen sind schwer zu ertragen. Unfassbar, welche Mühen es bedeutet hat, ein solches Gebäude zu errichten. Zerstört im Augenblick. Hoffentlich kann man möglichst viel retten.