Kleine Schritte machen. Es muss sich fast anfühlen wie Walken, nur schneller. Höhere Frequenz. Das ist der Plan im Kopf einer läuferischen Unbegabung. Angst vor den Folgen meiner orthopädischen Defizite und mangelnden Trainingsfleißes steigt auf. Zwei Minuten zum Start des spontan übernommenen Halbmarathon-Startplatzes (vielen lieben Dank nochmals an Mandarine

).
Kleine Schritte, hah! Ich weiß auch schon, wie die Fotos hinterher wieder aussehen werden: cyberpunk, der Kammerjäger, beim Kakerlaken-Zertreten. "Warum rennen die anderen alle und Papa tritt auf der Stelle?" Ich hoffe, meine Frau ist gut auf die inquisitorischen Fragen meines Sohnes vorbereitet. "Papa macht Lauf-ABC. Die Übung nenn man Skippings. Die anderen auf dem Bild laufen sich warm." - Ja, das könnte klappen.
In der Startaufstellung bloß nicht so weit nach vorne. Hier, bei den Pensionären, hier pass ich gut rein. Wir begrüßen uns kurz und beginnen einen Samlltalk. "Nö", meint der arg faltige Oakley-Träger, "schneller als 1:45 schaff ich heute nicht…". Ich drehe mich um, tue so als hätte ich jemanden erkannt und verschwinde noch zehn Meter weiter hinten im Pulk.
Startschuss. Langsam anlaufen. Kleine Schritte, hohe Frequenz. Vor mir ein Pärchen Mitte Vierzig. Mein Alter und auch sonst augenscheinlich meine Leistungsstufe. Bei km1 der kollektive Blick auf die Uhr. Hopsa, zu schnell. Auch das Pärchen nimmt Tempo raus. Wunderbar, an denen bleibe ich dran. Kleine Schritte, hohe Frequenz. Die machen noch kleinere Schritte als ich. Ich versuche, mich zu synchronisieren und stolpere. Vier Runden je 5km+ sind zu laufen.
Bei km3 etwa: Fahrradklingeln. Das Führungsfahrzeug für den schnellsten Läufer des 10km-Laufes rast vorbei, gejagt von einem kleinen, lautlosen, schwarzen Schatten. Der 10km-Lauf ist fünf Minuten nach uns gestartet. Der schwarze Schatten hatte die gleiche Schrittfrequenz wie ich, glaube ich. Ich habe ihn nur zwei Sekunden lang gesehen. Trotzdem fühle ich mich in meiner Taktik bestärkt und hopple weiter. Kleine Schritte, hohe Frequenz. Nichts riskieren.
Ich muss Pipi. Immer das selbe. Es muss doch rein physiologisch möglich sein, mal zwei Stunden lang KEIN Pipi zu müssen. Wie mich das nervt. Nach fast einer Minute Ewigkeit im Gebüsch tasten meine Augen die Ferne nach meiner Bezugsgruppe ab. Ganz weit vorne sehe ich das Pärchen, das meine Soll-Position markiert. Jetzt aber. Kleine Schritte, noch höhere Frequenz. Es dauert eine ganze Runde, bis ich aufgeschlossen habe. Der männliche Teil des Pärchens scheint zu schwächeln. Immer häufiger schaut er auf seinen Garmin-PC und stimmt sich dann mit der Partnerin ab. Haha! Ich hingegen bin frisch und munter. Jaja, Taktik ist alles. Kurze Schritte, hohe Frequenz. Ich bleibe dran. Aber auch die Frau wirkt unbeirrt.
Plötzlich: Fahrradklingeln. Das Begleitfahrzeug für den Führenden des Halbmarathons schießt vorbei - samt Läufer mit ausholendem Schritt, hoch angeferst und ganz offensichtlich mit Sprungfedern unter den Füßen. Halbmarathon? Das ist ja mein Lauf! Wieso läuft der jetzt schon vorbei? Ich steigere meine Frequenz. Kleiiiine Schritte.
Ende der dritten Runde. Die unbeirrte Frau steigt aus. Der Mann mit dem Garmin-PC gibt ihr einen Kuss. Ich überhole. Sekunden später schießt Garmin mit hoher Schrittfrequenz und langen Schritten an mir vorbei als sei der Teufel hinter ihm her. Offenbar doch nicht meine Leistungsstufe. Ich fühle mich besiegt und erschlaffe ein bisschen. Hinter mir plötzlich lautes Geschnatter. Ich drehe mich um und sehe drei Mädels in gleicher, farblich abgestimmter Laufkombination in flieder und rosé. "Dann hab ich gesagt…, dann hat er gesagt…, dann hab ich gesagt…" "Gibt´s nicht, so ein Schwein!" Das vorgetragene Drama dreht sich um Zwischenmenschliches und spielt in der Welt der Gastronomie. Ich höre kurz zu, bin aber nicht der Typ für RTL2 Scripted Reality oder Doku Soaps oder wie der Mist gerade heißt. Auch nicht, wenn er echt ist. Außerdem bin ich jetzt auf der letzten Runde und habe keine Lust, nach Oakley-Opa, dem Schatten, dem Anferser, Garmin und gefühlten 50 namenlosen Rasern, mich nun auch noch schnatternden Hotelfachfrauen frisch von der Nachtschicht geschlagen zu geben.
Ich mobilisiere die letzten kleinen orthopädisch unbedenklichen Schrittchen und hopple mit flatternder Schritt- und Herz-Frequenz ins Ziel. Immerhin. Nichts riskiert.
Kienle war um die gleiche Uhrzeit schon ausgestiegen.