Tag 3: Villagrande Strisaili-Sindia
117 KM / 1.368 HM / 06:48 netto Fahrtzeit / 122 HF / 3.105 Kalorien
Vor dem Frühstück ist wieder Schlauchflicken angesagt, damit ich bei einer erneuten Panne nur die Schläuche tauschen muss. Am Waschbecken ist dies besser zu erledigen als draußen in der Natur. Das ist auch schnell erledigt.
Heute sind wir noch früher aufgestanden um mehr Puffer zu haben. Das Auschecken dauert länger als gewohnt, deshalb möchte ich parallel schon die Fahrräder satteln. Diese durften in einem separaten Keller übernachten.
Dort angekommen trifft mich beinahe der Schlag. Bei mir vorne Platt, bei Schatzine hinten. Ist das die Wirklichkeit oder träume ich? Wo haben wir uns dies eingefangen? Das kann eigentlich nur auf den gestrigen letzten Metern gewesen sein. Wenn mir jemand diese Geschichte erzählen wollte, würde ich an Übertreibung glauben. Lamentieren hilft nicht, die soeben reparierten Schläuche werden sofort wiedereingesetzt, erst bei Schatzine, dann bei mir.
Sicherlich können andere einen Schlauchwechsel schneller durchführen als ich. Ich achte immer sehr darauf, ob die Schadenursache noch im Mantel steckt. Dazu wird dieser auf links gedreht und peinlichst, visuell und haptisch untersucht. Auch ein vermeintliches Einklemmen des Schlauches wird durch mehrmaliges Prüfen verhindert.
Lange Rede, … als ich mit meinem Rad fertig bin, alles Werkzeug aufgeräumt habe, sagt Schatzine, ach Mist, bei mir ist es schon wieder platt. Ich suche nach der versteckten Kamera, soviel Pech kann doch nicht war sein. Ich bin dieses Jahr über 8.000 KM und Schatzine über 5.000 KM gefahren ohne eine einzige Panne und nun ist es das 7. Loch innerhalb von 3 Tagen. Nun muss ich meinen letzten Flicken verwenden, das bedeutet, dass wir heute keinen Plan B haben. Ein Großteil der Strecke ist Pampa ohne Zivilisation, - was für Aussichten.
Wir starten mit mulmigem Gefühl. Als wir die letzten Häuser verlassen quälen mich die Pannengedanken immer mehr. Internet/Telefon hatten wir gestern nur sporadisch oder ganz schwach. In der ersten Stunde sehen wir kein einziges Auto. Im Kopfkino fallen mir unzählige Episoden der Serie „Bergretter“ ein, bei denen die in Not geratenen Personen immer im Freien übernachten müssen, bis endlich Hilfe kommt.
Gestern haben wir schon einige Überreste von Schlangen, Wildschweinen und sonstigem Getier gesehen, wer weiß was es hier sonst noch so gibt. Kurze Zeit später liegt am Straßenrand eine skelettierte Ziege, ich blicke zum Himmel und suche die kreisenden Geier, ein Schauer läuft mir über den Rücken, spreche meine Gedanken aber nicht aus.
Dann, wie zur Beruhigung, überholen uns drei Motorräder. Sonst nerven mich diese Verkehrsteilnehmer, heute verspüre ich große Freude an ihnen. Wir sind nicht mehr allein. Irgendwann läuft eine eingezäunte Autobahn parallel zu unserer Straße. Wieder ein Funke Hoffnung für den Fall der Fälle. Allerdings bleibt diese unten und wir gewinnen zunehmend an Höhe, mit dem Passo di Correboi. Das Wetter verschlechtert sich, es regnet und der Gegenwind ist wieder da.
Dann plötzlich, ein entgegenkommendes Wohnmobil, das mich auf einen Gedanken bringt. Autos die Fahrräder dabeihaben, könnten auch Flickzeug haben. Folglich mein Entschluss, das nächste Auto anzuhalten.
Eine gefühlte Ewigkeit später ein Auto ohne Fahrräder, Mist. Später dann drei Autos auf einmal. Ich stehe mitten auf die Straße und halte alle an. Dem ersten Italiener halte ich meine Flickzeugschachtel vor die Nase und sage: „I need this“ und zeige auf meinen Reifen. Dieser schüttelt den Kopf und fährt weiter.
Im zweiten Auto sind Franzosen, mein gleicher Spruch, auch hier Kopfschütteln. Das dritte Auto hat keine Fahrräder, also versuche ich es gar nicht. Mission gescheitert.
Drei Kurven weiter steht der Franzose am Straßenrand, kruschtelt in seinem Kofferraum und holt eine Werkzeugtasche hervor. Dort hat er tatsächlich drei Flicken die er mir gibt. Wir sind unendlich glücklich, finden es aber schade, dass wir aufgrund der Sprachbarriere unsere Dankbarkeit nicht so ausdrücken können wie wir gerne wollten.
Jetzt bin ich wieder zuversichtlich, der Schalter für gute Laune ist wieder umgestellt. Heute können wir uns drei Pannen leisten und morgen gibt es in der Stadt Gelegenheit Nachschub kaufen. Die Passhöhe bei 1.100 Metern ist nun bald erreicht, die Abfahrt wird trotz leichtem Nieselregen und heftigen Böen genossen.
Später verzieht sich der Regen, doch der Wind wird immer stärker. Windgeschwindigkeiten bis 60 km/h und Böen bis 90 km/h sind gemeldet. Leider Westwind, wir fahren in die falsche Richtung. In einer langgezogenen, abfallenden Linkskurve erfasst mich der Wind ausnahmsweise mal von hinten. Ich beschleunige wie „Kit“ mit Turboboost, doch merke schnell, dass sich die Windverhältnisse in der Kurve zunehmend ändern, bis mich eine seitliche Böe um gut zwei Meter versetzt. In Panik mache ich eine Vollbremsung die mich vermutlich vor Schlimmeren bewahrt.
Um 16:00 Uhr habe ich meisten ein Tief. Dies ist auch heute so. Eine kerzengerade Bundesstraße mit viel Verkehr, ca. 5% Steigung und fortwährendem Gegenwind zermürbt. Mit Front- und Satteltaschen habe ich eine Aerodynamik wie ein Omnibus. Meter für Meter eine Qual und kein Ende in Sicht. Der Rückblick an die vielen Marathons und Langdistanzen macht mir aber klar, dass diese Qual im Moment nur mental und nicht körperlich ist. Auch diese Straße hat ein Ende!
Und tatsächlich, mein Garmin piept und wir dürfen diese doofe Straße verlassen. Jetzt wird es wieder einsam. Straßen wie im Bilderbuch. Davon träumen wir so oft im Alltag. Das nächste Problem noch nicht erahnend, nähern wir uns diesem immer mehr.
Zuerst möchte ich der heutigen Hausherrin noch eine E-Mail schreiben, dass wir vermutlich erst um 19:00 Uhr ankommen werden. Sie hatte in ihren Regularien geschrieben, dass das späteste Einchecken um 17:00 Uhr erfolgen muss.
Ich gebe Gas um einen Vorsprung herauszufahren, um diese E-Mail zu schreiben, so kann Schatzine das Tempo beibehalten und wir verlieren keine zusätzliche Zeit. Schatzine ist schneller als gedacht und fährt an mir vorbei.
Doch in der Ferne sehe ich zwei große Hunde auf der Straße. Ich weiß, um ihre große Angst vor freilaufenden Hunden und gebe nochmals Vollgas um sie wieder einzuholen. Das gelingt mir auch und scheint die ersten Hunde auch etwas einzuschüchtern. Sie verziehen sich auf die Grundstücke links und rechts. Die Angst ist Schatzine ins Gesicht geschrieben.
Ich versuche zu beruhigen. Ein paar hundert Meter weiter, sind gleich vier Hunde auf der Straße die uns bellend und zähnefletschend flankieren und immer mehr Verstärkung durch ihre Kumpels erhalten. Nun wird auch mir mulmig. Ich schreie so laut ich kann „AUS“ und wie durch einen Zauber bleiben alle stehen, sind ruhig und verziehen sich wieder auf ihre Grundstücke.
Schatzine zittert, sie möchte diese Straße so schnell wie möglich verlassen, was wir dann auch tun. Nun dämmert es bereits und es ist kalt. Noch 5 KM bis Sindia. Es geht leicht bergab, das liebe ich auf den letzten Kilometern.
Mein Garmin leitet uns zuverlässig zu unserer Behausung. Doch auch bei mehrmaligem klingeln macht dort niemand auf. Ich checke nochmals die E-Mails auf Antworten, -Fehlanzeige.
Wir klingeln beim Nachbarn um die Telefonnummer zu bekommen und rufen dort an. Leider nur unverständliches Italienisch, mit Englisch haben wir keine Chance. Es wird aufgelegt ohne zu wissen was nun passiert.
Kommt nun jemand, oder müssen wir die Nacht auf der Straße verbringen. Von der Buchung wissen wir, dass es hier im größeren Umkreis keine Alternative gibt.
Schatzine wird nervös. Ich erarbeite gedanklich schon Lösungsvorschläge, als von Weitem ein Auto und eine Fußgängerin auf uns zukommen. Sollten dies unsere Vermieter sein?
Ja dem ist so. Wieder einmal stehen uns Tränen in den Augen vor Erleichterung und Dankbarkeit. Das Haus ist nagelneu und sehr geschmackvoll eingerichtet. Die Vermieterin ist außergewöhnlich nett und hilfsbereit. Wir verständigen uns über den Übersetzer des Handys.
Auch sie besorgt uns eine Pizza, mangels Restaurants in der Umgebung. Eine lange warme Dusche bringt wieder Leben in unsere müden Leiber. Die beiden kaputten Schläuche werden noch mit den Franzosenflicken repariert und die tägliche Kleiderwäsche steht ebenfalls noch an. Danach geht auch dieser aufregende Tag glücklich zu Ende.
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