Dieses Video ist schon etwas abgehangen, bevor ich nun dazu komme, es zu würdigen:
How I Became a Better Swimmer at an Older Age
Lionel erzählt in 22 Minuten eigentlich wenig Neues. Allerdings klingt das, was er sagt, mir so schön und zutreffend im Ohr, dass ich dennoch darauf eingehen will. Thema ist mal wieder das Schwimmen und wie sich seine Einstellung dazu geändert hat.
Am meisten bedauert er mittlerweile, dass er in der 9. Klasse nicht der wiederholten Aufforderung von Mrs. Beaudreau(?) gefolgt ist – "Du wirst vermutlich Spaß haben!" – dem Schwimm-Team beizutreten.
Wäre er jetzt am Start seiner Karriere, was würde er sich selbst raten, wenn es ums Schwimmen geht? Das Wichtigste ist, dass die Auseinandersetzung mit dem Wasser nichts damit vergleichbar ist, wie man mit festem Boden interagiert. Er dachte, dass er seine Erfahrungen als guter Läufer 1:1 aufs Wasser übertragen könnte. Dadurch, dass er es jahrelang so versucht hat, hat er vermutlich schlechte Angewohnheiten und Automatismen betoniert, die er nun kaum mehr los wird. Er hat nicht darüber nachgedacht, wie er das Wasser beeinflusst, sondern nur versucht, es so anstrengend wie möglich zu machen, in der Hoffnung, dass er sich an den Schmerz gewöhnt und mehr davon ertragen kann und im Ergebnis schneller wird.
Das hat sich wirklich erst geändert als er begann, sich von Justin Slade coachen zu lassen, der ihm sagte, er solle sich entspannen soll, einige Schritte zurückgehen und eine Beziehung zum Wasser aufbauen. Wasser verhält sich nicht wie der Boden unter den Füßen, von dem man sich abdrückt, ohne dass er sich bewegt. Wenn man im Wasser zu hart drückt, entweicht es. Das Wasser ist eine Substanz durch die man sich im selben Moment schieben muss, in dem man versucht, sie möglichst fest werden zu lassen, damit man sich davon abdrücken kann. Es ist sonderbar. Deswegen kann der Ansatz, so zu schwimmen, wie man rennt, nie funktionieren.
Bildinhalt: Dude, you need to relax!
Lionel hat trotzdem mit Justin herumdiskutiert, dass er in der Lage war, durch harte Arbeit sein Rad- und Laufform zu verbessern. Warum sollte das nicht im Schwimmen funktionieren? Nach einigen Monaten des Widerstands hat sich Lionel dann tatsächlich entspannt und begonnen, darauf zu achten, was seine Hände im Wasser machen, was um ihn herum geschieht, wie seine Hand durchs Wasser rutscht. So hat er begonnen, eine Beziehung zum Wasser aufzubauen, während er vorher dagegen angekämpft hat und versucht hat, dem Wasser seinen Willen aufzuzwingen.
Es braucht ein gewisses Maß an Wahrnehmungsvermögen, um die Flüssigkeit greifen zu können. Wenn man nicht willens ist, sich dieses Vermögen zu erarbeiten, wird man nie das gleiche Level erreichen wie diejenigen, die bereit sind, diese Fähigkeit zu erlernen und zu verbessern. Viele Menschen, die als Kinder begonnen haben zu schwimmen, sind sich gar nicht bewusst, dass sie diese Fähigkeit haben. Sie begannen so früh, dass sie gar nicht das Vokabular hatten, zu beschreiben, was da geschah. Sie haben sich vermutlich nicht allzu viele Gedanken darüber gemacht, was "gute" oder "schlechte" Technik bedeutet, sondern einfach Spaß im Wasser gehabt, das Wasser gespürt und gelernt es für sich zu nutzen.
Einige wenige Menschen springen ins Wasser und haben eine hervorragende Beziehung damit. Aber den meisten Menschen geht es anders, besonders wenn sie älter sind. Menschen fürchten sich vor dem Wasser. Wasser kann Dich töten. Man muss sich dieser tiefsitzenden Angst bewusst sein, wenn man eine positive Auseinandersetzung mit dem Wasser sucht.
Es gibt einige, die mit optisch guter Technik schwimmen und doch sehr langsam vorankommen. Trotz ihrer scheinbar guten Ausführung haben sie keine Beziehung zum Wasser und wissen nicht, wie sie ihre Technik einsetzen sollten. Gute Schwimmer eint nur auf den ersten Blick die Technik, was sie wirklich alle gemeinsam haben, ist ein hervorragendes Gefühl fürs Wasser.
Bildinhalt: Lionel erklärt, wie es so ist, mit dem Wasser...
Viele gute Schwimmer haben offensichtliche Technikfehler. Gerry Rodrigues von Tower 26 hat ihm schon vor langer Zeit gesagt, dass er ihm Beispiele von Schwimmern geben kann, die 1500 m in 16:00 Minuten schwimmen, aber jeden denkbaren Technikdefekt aufweisen, den Lionel auch hat. Und trotzdem schwimmen sie so schnell. Deswegen sollte sich Lionel nicht auf Technikfeinheiten konzentrieren.
Als Lionel zu Justin kam, sagte ihm dieser, er solle aufhören, sich über Zeiten Gedanken zu machen. Die haben keine Relevanz. Natürlich sind Zeiten nicht irrelevant für einen Profi, aber wenn Lionel auch nur ansatzweise in der gleichen Liga spielen will wie gute Schwimmer, muss er alles über Bord werfen, was er jemals geglaubt hat, übers Schwimmen zu wissen. Und am besten fängt er damit an, dass er aufhört, Zeiten erreichen zu wollen, die er selbst für gut hält. Wenn er nicht gerade Jan Frodeno oder Vincent Luis ist, dann ist vermutlich das, was er für eine gute Zeit hält, nicht wirklich eine gute Zeit. Er sollte also die Jagd nach guten Zeiten durch gute Interaktion mit dem Wasser ersetzen. Justin sind die Zeiten egal, die Lionel erreicht, es ist ihm wichtig, wie er sie erzielt. Es geht darum, den Körper vergessen zu lassen, wie er sich durchs Wasser geackert hat; die alten neuronalen Verbindungen müssen gelöst werden.
Bildinhalt: Stop, stop, stop being aggressive!
Wenn er irgendwann mal nur noch gute Verbindungen hat, dann kann man vielleicht darüber nachdenken, wieder Kraft in einen sehr weichen Zug einzubringen. Aber für "uns Nachwuchsschwimmer" kann es keine Aggression beim Schwimmen geben.
Man darf das Wasser nicht zu hart anfassen, man rutscht durch. Man darf es auch nicht zu bedächtig greifen, man rutscht durch. Es muss genau richtig sein.
Außerdem hat er angefangen, Laktatmessungen beim Schwimmen zu machen. Es geht darum, herauszufinden, ob das, was er als lockeres Schwimmen empfindet, tatsächlich locker ist, oder nicht doch eher überhart ist. Wenn man sich das beim Laufen eine Woche lang antäte, wäre man verletzt. Dadurch hat er gelernt, dass man noch weniger Einsatz braucht als gedacht, um zügig vorwärts zu kommen.
Es ist schwer, bei Schwimmen einen Referenzpunkt zu finden, das ist mit der Wattmessung beim Radfahren und den Pods beim Laufen in Kombination mit der Herzfrequenz leichter. Die Herzfrequenz ist beim Schwimmen nicht ganz so leicht auszuwerten. Die Laktatmessung ist da deutlich aussagekräftiger. Und man kann nicht lügen, "ah, das war ganz locker," während das Laktat bei 4 mmol ist. Das ist kein lockeres Schwimmen. Wenn man immer gefühlt locker aber tatsächlich fordernd bis hart schwimmt, dann ist da kaum noch Luft für Weiterentwicklung. Und man verpasst die Gelegenheit, sich zu entspannen, die Interaktion mit dem Wasser besser einzuüben und es besser zu greifen.
11 Jahre lang hat er viel mentale Energie in den Versuch investiert, zu verstehen, was beim Schwimmen funktioniert und was nicht. Es gibt, wie in der Diätindustrie, endlos viele Methoden und Tools, die angeblich das Problem lösen sollen. Lionel hat vermutlich jedes Schwimmtool ausprobiert, das es gibt. Er besitzt zwei gigantische Taschen voller Schwimmequipment. Mittlerweile nutzt er nichts mehr davon und hat das Schwimmen nie mehr genossen als jetzt. Er hatte nie zuvor eine größere Zuversicht.
Was dazu kommt, ist, dass er von Haus aus vermutlich sehr wenig Talent fürs Schwimmen mitbringt. Sein Startpunkt war also auf einem sehr niedrigen Niveau angesetzt. In seinem ersten Triathlon ist er 500 m in einer 2:40er Pace geschwommen. Für all-out 100 m brauchte er 2:00 min und da schwamm er schon einige Monate. Und er hat ein gutes kardiovaskuläres System, das Probleme kaschieren kann.
Endlich ist es so weit, dass es Sinn ergibt, dass sich der Nebel lichtet. Er beginnt, es zu lieben. Anfangs war es nur Mittel zum Zweck: Irgendwie das Schwimmen überstehen, so dass er endlich aufs Rad steigen kann. Aber jetzt liebt er es. Er wird für den Rest seines Lebens schwimmen, weil es ein wunderbarer Sport ist, eine wunderbare Aktivität. Das Schwimmen ist ähnlich wie das Laufen in der Wüste, was er zum Spaß macht, es ist meditativ.
Bildinhalt: "Develop your relationship with the water!"
Er hat Mitgefühl mit vielen Menschen, die vom Schwimmen frustriert sind. Er glaubt, dass viel davon mit der Einstellung zu tun hat und wie man das Schwimmen angeht. Er glaubt, wenn man sich darauf einlässt, eine Beziehung mit dem Wasser einzugehen – er weiß, dass sich das kitschig anhört – und zu fühlen, dass man das Wasser liebt, zu spüren, wie sanft das Wasser ist und sanft zum Wasser zu sein, wird man sein Schwimmen auf eine neue Ebene bringen, genauso wie die Einstellung zum Schwimmen.
Wenn es einfach wäre, das Schwimmen zu beschreiben, wäre es schon längst geschehen. Die Tatsache, dass es tausende von YouTube-Videos und -Channels gibt, die erzählen, wie man ein besserer Schwimmer wird, zeigt, dass niemand korrekt übermitteln kann wie man besser schwimmt. Niemand kann das.
"Du musst es selbst lernen. Es gibt keine einzelne Technikverbesserung, die es Dir erlauben wird, irre schnell zu schwimmen. Die Basis für all das ist die Beziehung zum Wasser. Entwickelt Eure Beziehung zum Wasser! Das macht richtig Spaß!"