Richtig, aber es muß klar sein, daß die Sanktionen meist nicht durch die Kirchengemeindemitglieder, sondern durch die höheren Instanzen der Amtskirche drohen, und diese Unterscheidung ist für viele Christen sehr wichtig.
Du schreibst, dass es den Kirchenmitgliedern sehr wichtig wäre, mit den offiziellen Funktionären nicht in einen Topf geworfen zu werden.
Aber eben diese Behauptung steht auf dem Prüfstand. Wie wichtig ist es ihnen? Wie äußert es sich? Äußert es sich überhaupt?
Wenn es ihnen wichtig wäre, müsste es sich doch äußern? Wenn es die Mehrheit beträfe, würde sie sich irgendwann auch durchsetzen. Also warum setzen sie sich nicht durch?
Wenn sie sich nicht durchsetzen, sind sie gesellschaftlich nicht relevant. Aber die Kirchen erhalten ihre weit reichenden Privilegien nur deshalb, weil sie angeblich gesellschaftlich relevant seien.
Anders gesagt: Wenn die Amtskirchen überhaupt gar nicht die Mehrheit der Gläubigen vertreten, dann haben sie auch keinen Anspruch auf die Privilegien.
Religionen setzen den Anker bei einem undefinierten höheren Wesen, um es über das menschliche Urteil zu stellen.
Du schreibst, die Religionen würden ein bestimmtes Axiom verwenden, also eine Grundannahme, die als Basis für alle anderen Schlussfolgerungen dient.
Worin besteht das Axiom genau? Ist es das "undefinierte höhere Wesen"?
Es lohnt sich, hier genau hinzusehen. Ist es wirklich das "undefinierte höhere Wesen", oder ist es vielmehr nur die Erzählung davon? Ist es wirklich die Gottheit, oder ist es in Wahrheit die Behauptung eines Priesters?
Um den Unterschied zu illustrieren: Es ist ein Unterschied, ob ich ein Wunder untersuche (Brot hat sich tausendfach vermehrt), oder ob ich in Wahrheit nur die Erzählung davon untersuche. Habe ich die Brote oder habe ich nur ein Papier?
Was ich damit erreichen will: Ich stimme Dir zu, dass alle Moralsysteme auf bestimmten Grundannahmen basieren. Diese sind aber unterschiedlich belastbar und unterschiedlich plausibel. In manchen Fällen könnten sie auch widersprüchlich oder undefinierbar sein (das ist Arnes Punkt).
Für mich ist wichtig, dass ich mich nicht schulterzuckend damit zufrieden geben muss, wenn mir ein Axiom präsentiert wird, das angeblich nicht weiter hinterfragt werden kann. Ich kann durchaus verlangen, dass das Axiom plausibel und widerspruchsfrei ist. Die Axiome des Christentums sind weder plausibel noch widerspruchsfrei.
Ich bin gar nicht so sicher, ob es überhaupt Axiome sind oder ob nur der Anschein erweckt wird.
Richtig, aber es muß klar sein, daß die Sanktionen meist nicht durch die Kirchengemeindemitglieder, sondern durch die höheren Instanzen der Amtskirche drohen, und diese Unterscheidung ist für viele Christen sehr wichtig.
Ich weiß, was Du meinst. Wir stimmen in vielen grundsätzlichen Punkten miteinander überein. Dennoch möchte ich hier kurz einhaken.
Die Durchsetzung christlicher Moral erfolgt ganz wesentlich über die soziale Ächtung. Sie wird meist nicht von den höheren Instanzen der Amtskirche verübt, sondern von den gläubigen Menschen selbst. Ich gebe Dir recht, falls Du ausdrücken wolltest, das dieser soziale Druck heutzutage und in Deutschland nachgelassen hat.
Mein Argument lautet: Auch unter Anwendung der eigenen christlichen Maßstäbe lassen sich die moralischen Standpunkte des Christentums nicht rechtfertigen oder bewerten. Das sieht man daran, dass es im Christentum zu praktisch allen moralischen Fragen unterschiedliche, sich teilweise direkt widersprechende Standpunkte gibt, die sich allesamt auf denselben Gott berufen, der sich ihnen offenbart habe.
...
Verstehst Du, was ich meine?
Ich glaube schon. Es ist aber keine spezielle Eigenschaft des Christentums. Diese Möglichkeit der unterschiedlichen Interpretation einer Basis, nenne es Religion oder Ideologie, ist allen Systemen inherent und wird eifrig genutzt, dank dem menschlichen Erfindungsreichtum, alles im eigenen Interesse, ggf. auch ins Gegenteil, umzuinterpretieren (Stichwort Dialektik).
Sowohl Windkraftbefürworter als auch Windkraftgegener berufen sich auf das Hehre Ziel Naturschutz; Impfgegner wie Impfbefürworter schlagen sich die Köpfe nur zum Schutz der Gesundheit der Menschen ein, Steuersenkungen und Steuererhöhungen werden gerne mit dem Ziel der Arbeitsplatzbeschaffung angepriesen, etc. Dein Stichwort "Willkür" läßt sich noch auf viele andere Systeme anwenden in diesem Sinne.
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“If everything's under control, you're going too slow.” (Mario Andretti)
Ich glaube schon. Es ist aber keine spezielle Eigenschaft des Christentums. ... Dein Stichwort "Willkür" läßt sich noch auf viele andere Systeme anwenden in diesem Sinne.
Dein Argument lautet zusammengefasst, das Christentum kann seine moralischen Standpunkte nicht begründen, andere Ideologien oder Weltanschauungen jedoch auch nicht. Ungefähr korrekt?
..Wenn sie sich nicht durchsetzen, sind sie gesellschaftlich nicht relevant. .
Doch, nur weil sie das System der Amtskirche nicht ändern, sind sie relevant, weil sie die gelebte Praxis in der Gesellschaft verändern, so wie mich Arne verstanden hat:
Zitat:
Zitat von Klugschnacker
Ich weiß, was Du meinst. ...Die Durchsetzung christlicher Moral erfolgt ganz wesentlich über die soziale Ächtung. Sie wird meist nicht von den höheren Instanzen der Amtskirche verübt, sondern von den gläubigen Menschen selbst. Ich gebe Dir recht, falls Du ausdrücken wolltest, das dieser soziale Druck heutzutage und in Deutschland nachgelassen hat.
Zitat:
Aber die Kirchen erhalten ihre weit reichenden Privilegien nur deshalb, weil sie angeblich gesellschaftlich relevant seien
Anders gesagt: Wenn die Amtskirchen überhaupt gar nicht die Mehrheit der Gläubigen vertreten, dann haben sie auch keinen Anspruch auf die Privilegien.
Volle Zustimmung, ohne Widerspruch. Nicht die Kirchen sind gesellschaftlich relevant (in D), sondern die Gläubigen. Das kann aber in anderen Ländern auch anders aussehen.
Zitat:
Zitat von Jörn
...Für mich ist wichtig, dass ich mich nicht schulterzuckend damit zufrieden geben muss, wenn mir ein Axiom präsentiert wird, das angeblich nicht weiter hinterfragt werden kann. Ich kann durchaus verlangen, dass das Axiom plausibel und widerspruchsfrei ist. Die Axiome des Christentums sind weder plausibel noch widerspruchsfrei.
Axiome werden per Definition innerhalb des Systems nicht hinterfragt oder begründet. Sobald ich das versuche, muß ich zwangsweise außerhalb des Systems sein, und bin damit in meiner Kritik und Wertung frei - aber nur innerhalb meines eigenen Systems, das auch auf Axiome baut, welche allerdings jemand aus einem anderen System auf Grund seiner Axiome ebenfalls hinterfragen und bezweifeln kann. Axiome von Moral- und Glaubenssystemen sind (anders als in der Mathematik) seltenst universell plausibel und widerspruchsfrei, egal ob es die der Christen, Kommunisten, Neoliberalen oder Öko-Aktivisten sind.
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“If everything's under control, you're going too slow.” (Mario Andretti)
Nicht die Kirchen sind gesellschaftlich relevant (in D), sondern die Gläubigen.
Wie äußert sich das? So, dass ich es sehen und überprüfen kann?
Die Kirchen sind der größte Arbeitgeber in Deutschland (nach dem Staat). Sie sitzen in den Rundfunkräten und Ethik-Kommissionen der Regierung. Sie verfügen über Milliarden Euro. Sie haben Verträge mit allen Landesregierungen und der Bundesregierung. Sie bestimmen über TV- und Rundfunksendungen und legen deren Inhalte frei fest. Sie legen die Inhalte des konfessionellen Religionsunterrichts fest.
Nichts davon trifft auf den einzelnen Gläubigen zu -- auch nicht als Gemeinschaft. Wenn sie sich zusammenschlössen (was teilweise schon geschieht), haben diese Gruppen trotzdem keine der genannten Privilegien. Keine dieser Gruppen stellt auch nur einen einzigen Religionslehrer oder hat eine einzige Trauung vorgenommen.
Ich habe also erhebliche Zweifel an der Aussage, dass die Kirchen nicht relevant wären, wohl aber die einzelnen Gläubigen. Es muss ja nicht schwarz-weiß sein. Aber zu sagen, dass die Kirchen keinen Einfluss hätten, scheint mir schwer belegbar zu sein.
Keine andere Gruppe hat derart weit reichende Privilegien in Deutschland wie die zwei christlichen Amtskirchen.
Axiome werden per Definition innerhalb des Systems nicht hinterfragt oder begründet. Sobald ich das versuche, muß ich zwangsweise außerhalb des Systems sein...
Die Kirchen und mit ihnen das Christentum erheben einen universalen Wahrheitsanspruch, der sich auf unsere konkrete, erfahrbare Welt bezieht.
Die Theologen sprechen nicht von einem isolierten philosophischen System, innerhalb dessen bestimmte Glaubensannahmen (Axiome) Geltung hätten. Sondern es geht um unsere reale Welt.
Deshalb kann man christliche Behauptungen an der realen Welt messen, zumindest dort, wo das möglich ist. Stand die Sonne einen Tag lang still? Ist die Erde 6000 Jahre alt? Stammen sämtliche Arten von der Arche Noah ab? Entstand die Erde vor der Sonne? Teilte uns der Schöpfer des Universums tatsächlich seine Ansichten über Verhütungsmittel mit? Wann und wem?
Dies ist mein Argument: Wir haben es nicht mit Axiomen zu tun, sondern mit Tatsachenbehauptungen. Es steht uns frei, sie zu hinterfragen.