Aber ist das nicht die übliche Vermischung von Wahrheit und Toleranz, die man in Debatten mit Gläubigen zuverlässig vorfindet, damit sich jeder seine bevorzugte „Wahrheit“ basteln kann?
Man kann ohne weiteres rigoros sein, in dem Versuch, Wahres und Belegbares von Unwahrem und Unbelegbarem zu trennen, und dennoch andere Lebenseinstellungen tolerieren als die eigene. Beides hat miteinander nichts zu tun.
Wenn über Wahrheit diskutiert wird, spielt Toleranz keine Rolle. Entweder dreht sich die Erde um die Sonne oder nicht. Entweder war das Grab von Jesus leer oder nicht. Hier eine „Toleranz“ einzufordern, geht am Zweck der Debatte vorbei. Wer ehrlich an der Wahrheit interessiert ist, möchte nicht, dass ihm mit „Toleranz“ geantwortet wird. Ein Wissenschaftler möchte wissen, ob seine Kollegen Einwände haben. Er hofft nicht darauf, dass sie ihre Einwände zurückhalten. Er will die Einwände hören.
In Debatten über Wahrheit plötzlich Toleranz einzufordern, ist vielleicht nur der Versuch, die Prüfung auf Wahrheit zu verhindern. Es ist eine der vielen Immunisierungsstrategien.
Man kann und soll sehr wohl hartnäckig nach Wahrheit suchen. Dabei spielt die Toleranz tatsächlich zunächst keine Rolle.
Die Frage ist aber, wie man mit der Wahrheit umgeht und was man damit macht. Hier klang ja an, welch ein Unfug Luther u.a. verzapft hat. Er hat sicher auch viel Gutes und Wahres bewirkt und gewollt. Letztendlich kann man sich als Atheist begründet gegen diesen zusätzlichen Feiertag wehren. Ebenso gegen all anderen christlichen Feiertag; gegen sonstwas, was mit Religion zu tun. In letzter Konsequenz müsste man alles abschaffen. Damit geht man im Namen einer Toleranz Hand in Hand mit einer Intoleranz.
Und diese Wahrheit müsste man auch auf anderen Gebieten einfordern. Ich habe schon mit Menschen gearbeitet, die Dyskalkulie haben. Warum sollte ich ihnen im Namen der Wahrheit nicht die Wahrheit über ihre Fähigkeiten ins Gesicht sagen?
Ich bleibe dabei: eine Welt, die konsequent und ohne Toleranz auf Wahrheit setzt, ist für mich ein Schreckgespenst. Oder setzt du die Messlatte nur bei Religionen an?
Moral ... tritt hier in verschiedensten Formen in Erscheinung: Als Vorgaben in Religionen, als ungeschriebene Gesetze in Familien oder unter Kollegen, als Gesetzestexte von Staaten, im Völkerrecht, als Wertesysteme usw. All diese "Regelwerke" sind aber Konzepte, die vom Menschen erdacht wurden und ohne Menschen nicht existieren. Aus diesem Grunde sind sie auch nicht ursächlich - sondern nur indirekt - einer Evolution unterworfen.
Warum sollten Konzepte, die vom Menschen erdacht wurden, keiner Evolution unterliegen?
Wir haben die technische Evolution konkret vor Augen. Alle möglichen technischen Konzepte konkurrieren miteinander um Ausbreitung. Die VHS-Kassette war einmal sehr verbreitet und wurde von anderen Formaten abgelöst. Es gewann nicht unbedingt die beste Lösung, sondern die mit dem größten Ausbreitungserfolg. Wer früher einen Windows-Rechner hatte, weiß das.
Auf der kulturellen Seite haben wir beispielsweise die Evolution der Zahlungsmittel. Erst wurden Waren direkt getauscht, dann erfand man das erste Geld. Bargeld wird nun demnächst verschwinden. Der Großteil unserer heutigen Wirtschaft funktioniert mit fiktivem Geld, das gar nicht vorhanden ist – jede Bank kann das Zehnfache dessen verleihen, was sie tatsächlich hat. Geld ist zudem selbst zur Handelsware geworden.
Auch Gesetze unterliegen einer Evolution. Untaugliche Gesetze werden verändert oder verschwinden. Gerade eben wurde das Asylrecht wegen geänderter "Umweltbedingungen" angepasst.
Evolution findet nicht nur in den Genen der Lebewesen statt.
Und diese Wahrheit müsste man auch auf anderen Gebieten einfordern. Ich habe schon mit Menschen gearbeitet, die Dyskalkulie haben. Warum sollte ich ihnen im Namen der Wahrheit nicht die Wahrheit über ihre Fähigkeiten ins Gesicht sagen?
Ich bleibe dabei: eine Welt, die konsequent und ohne Toleranz auf Wahrheit setzt, ist für mich ein Schreckgespenst. Oder setzt du die Messlatte nur bei Religionen an?
Hallo keko, die Frage, ob man sich nur und immer an die Wahrheit hält, stellt sich überhaupt nicht. Es ist ein Strohmann-Argument, bei dem absichtlich eine absurde Option zur Auswahl steht, damit man automatisch die andere Option wählt.
Natürlich sagt man seiner Umwelt nicht dauernd die schonungslose Wahrheit, ebensowenig wie man dauernd die schonungslose Wahrheit über sich selbst hören will. Ich sehe keinen Zusammenhang mit Atheismus. Atheismus ist keine Form der Höflichkeit.
Ich sehe auch nicht, was die Frage, ob das Grab von Jesus leer war, mit Höflichkeit zu tun hat. Natürlich gibt es eine Menge gläubiger Menschen, die ein großes Theater aufführen, sobald es jemand wagen sollte, ihren Glauben infrage zu stellen. Hier wird die (angebliche) persönliche Verletztheit dazu verwendet, um eine Debatte über faktische Wahrheiten komplett unmöglich zu machen. Und in diesem Fall ist mir die (angebliche) persönliche Verletztheit egal, einfach damit die Gläubigen erkennen, dass dieser Schachzug keinen Erfolg hat.
Damit will ich sagen, dass man entweder durch Vereinbarung oder durch die Umstände einen Rahmen setzen kann, in dem mal die Wahrheit und mal die Höflichkeit bestimmt: In einem Thread wie diesem heißt es für mich „Feuer frei!“, während ich am Sterbebett von Bischof XY sicherlich keine Liste seiner Irrtümer verlesen werde.
Ich kann durchaus die vielen Muslime hier in Frankfurt tolerieren — ja, ich begrüße es, dass sie anders sind. Denn die dadurch eingeübte Toleranz kommt allen zugute. Es erzeugt Freiheit und Freiräume für alle. Trotzdem kann ich rigoros auf Beweisen bestehen, wenn mir eingeredet werden soll, irgendein Prophet wäre auf einem geflügelten Pferd umher geflogen. Ich muss die Wahrheit nicht der Toleranz opfern.
Du schreibst, Luther hätte „viel Gutes und Wahres bewirkt“. Aber wenn man Dich nach konkreten Beispielen seiner Thesen fragt, erhält man keine Antwort. Hingegen konnte ich (und Vicky) zahlreiche wirre Zitate anführen, die kein gutes Licht auf ihn werfen, und die in ihrer Mannigfaltigkeit auch nicht den Schluss zulassen, es handele sich um einzelne Ausreißer.
Ich kann durchaus die vielen Muslime hier in Frankfurt tolerieren — ja, ich begrüße es, dass sie anders sind. Denn die dadurch eingeübte Toleranz kommt allen zugute. Es erzeugt Freiheit und Freiräume für alle. Trotzdem kann ich rigoros auf Beweisen bestehen, wenn mir eingeredet werden soll, irgendein Prophet wäre auf einem geflügelten Pferd umher geflogen. Ich muss die Wahrheit nicht der Toleranz opfern.
Insofern geht es dir nur um die Wahrheit, die aber letztendlich keinerlei Konsequenzen hat?
Ansonsten müsstest du auf die Barrikade gehen, wenn dir in Frankfurt eine Frau mit Kopftuch begegnet.
Zitat:
Zitat von Jörn
Du schreibst, Luther hätte „viel Gutes und Wahres bewirkt“. Aber wenn man Dich nach konkreten Beispielen seiner Thesen fragt, erhält man keine Antwort. Hingegen konnte ich (und Vicky) zahlreiche wirre Zitate anführen, die kein gutes Licht auf ihn werfen, und die in ihrer Mannigfaltigkeit auch nicht den Schluss zulassen, es handele sich um einzelne Ausreißer.
Man könnte jetzt googeln und eine These rausholen, z.b: 86: Warum baut der reiche Papst nicht wenigstens den Petersdom von seinem Geld?
Insgesamt vertraue ich in der Beurteilung Luthers den Historikern mehr als dir und Vicky. Dass er streitbar ist, habe ich schon in der Schule gelernt.
Warum sollten Konzepte, die vom Menschen erdacht wurden, keiner Evolution unterliegen?
Sie tun es nicht unmittelbar - sie benötigen einen Mediator. Der Mediator von Gedankenkonzepten ist der Mensch. Eine Blume braucht zur Evolution keinen Menschen. Sie unterliegt unmittelbar der Evolution. Eine Religion z. B. dagegen benötigt zur Evolution den Menschen. Ja, bereits zur Existenz benötigt die Religion den Menschen - ohne Menschen keine Religion.
Wer hat denn das Geld erfunden? Wer hat denn die untauglichen Gesetze abgeschafft? Das war alles der Mensch.
Sie tun es nicht unmittelbar - sie benötigen einen Mediator. Der Mediator von Gedankenkonzepten ist der Mensch. Eine Blume braucht zur Evolution keinen Menschen. Sie unterliegt unmittelbar der Evolution. Eine Religion z. B. dagegen benötigt zur Evolution den Menschen. Ja, bereits zur Existenz benötigt die Religion den Menschen - ohne Menschen keine Religion.
Richtig, eine Blume braucht zur Evolution keine Menschen. Aber Bienen, Boden, Luft, Wasser und Sonne. Es fällt mir schwer, hier einen prinzipiellen Unterschied festzustellen.
Denken wir uns mal die Bienen weg. In manchen Gegenden Chinas sind Bienen bereits ausgestorben. Hier bestäuben Menschen von Hand die Obstbäume. Die Obstbäume sind nun auf Menschen angewiesen. Unterliegen sie demnach nicht mehr der Evolution?
Was ist mit Tieren und Pflanzen, die vom Menschen gezüchtet wurden und die es in der Natur nicht gibt. Unterliegen auch sie nicht der Evolution?
Insofern geht es dir nur um die Wahrheit, die aber letztendlich keinerlei Konsequenzen hat? Ansonsten müsstest du auf die Barrikade gehen, wenn dir in Frankfurt eine Frau mit Kopftuch begegnet.
Hallo keko! Konsequenzen kann ich nur für mich selber ziehen. Die Konsequenzen, die andere für sich ziehen, muss ich hinnehmen. Ich sehe keinerlei Probleme für mich darin, wenn Gläubige sich auf absurde Weise kleiden. Sie haben das Recht dazu.
Ich widerspreche erst dann (und zwar hartnäckig), wenn behauptet wird, irgendein Gott hätte diese Kleidung vorgeschrieben — und alles, was an „Beweisen“ vorgelegt wird, sind ein paar läppische Kritzeleien, die ganz offensichtlich von Menschen geschrieben wurden.
Ich würde auch nichts gegen einen Priester und seine Predigt einwenden. Ich würde nur dann widersprechen (und zwar hartnäckig), wenn er behauptet, er könne die Anwesenden wirksam segnen.
Ergo: Sobald Tatsachenbehauptungen im Spiel sind, ändert sich der Kontext. Dann darf man diese Tatsachen untersuchen.
Zitat:
Zitat von keko#
86: Warum baut der reiche Papst nicht wenigstens den Petersdom von seinem Geld? Insgesamt vertraue ich in der Beurteilung Luthers den Historikern mehr als dir und Vicky. Dass er streitbar ist, habe ich schon in der Schule gelernt.
Ja, diese These ist sinnvoll. Es ist allerdings keine theologische These. Außerdem ist es ein Zirkelschluss, denn „das Geld des Papstes“ speist sich aus denselben Quellen wie der Ablasshandel. In allen Fällen kommt es von den Gläubigen, so oder so. Auch Luther lebte vom Geld der Gläubigen.
Du sagst, Du würdest dem Urteil der Historiker vertrauen. Ist das womöglich eine Immunisierungsstrategie? Ist es nicht identisch mit der Aussage: „Ihr könnt mir eine Million dieser Zitate vorlegen, und ich werde dennoch meine Meinung nicht ändern“? Was würde denn Deine Meinung ändern? Luther-kritische Historiker gibt‘s doch jede Menge. Ich finde, die vorgebrachten Zitate wiegen schwer.
Letztlich glaubst Du seinen Behauptungen ja selber nicht.