Liebes Tagebuch,
nach 32 Jahren mit der selben Partnerin hatte ich nun doch noch, kurz vor Erreichen des Rentenalters, mein erstes Blind Date.
Kennengelernt haben wir uns hier, ein paar mal in irgendeinem Fred getroffen, aber nun tatsächlich mal verabredet, für eine lustige Radtour. Nie getroffen. Nie gesprochen. Kein Photo gesehen.
Um es vorwegzunehmen: die hat sich einen Scheiss für mich interessiert, die wollte nur Rad fahren, aber, ganz ehrlich: ging mir ja auch so. Doch auf 275 km hat man einfach eine Menge Zeit und so war es wirklich nett. Hohe Entertainmentqualität, hört auch gern zu. Und Rad fährt die wie eine Diesellok. Die hätte auch die ganze Strecke im Wind fahren können und das noch nicht einmal gemerkt, ausser, weil ihr dann niemand zugehört hätte. Insofern... Und die Lok im Wind habe ich echt gebraucht, denn morgens war es echt kalt und ab Pause 1 nach 100 km in Dömitz war es dann zwar moderat, dafür aber sehr fies ostwindig. Volle Breitseite von vorm. Blöd war auch, dass ich meine Radjacke zum Start vergessen hatte. Der Not gehorchend trug ich dann also einen alten Hoodie, den ich von meiner Tochter geliehen hatte, unter dem langen Radtrikot. Na ja, kurz darauf dann der Sozialjackpot: wir sammelten noch zwei Damen ein und so bekam ich im Belgischen Kreisel alle Augenblick eine neue Partnerin, Yeah! Die km vergingen wie im Flug. Die Lok im Wind und locker quasseln, Kette rechts. Und man hatte Verständnis für meine Marotten: "Ortsdurchfahrt Bad Wilsnack, da ist ne Tanke, da gibt es lauwarmen Espresso!" Alles klar. Gute Fahrt.
Nach 200 km, als ich so langsam keinen Bock mehr hatte und nur noch entspannt ankommen wollte, haben wir uns zu viert von der Riesengruppe des Betriebssportverbands aufsaugen lassen. Vorteil: 75 km lockeres Rollen, kaum noch Wechsel. Nachteil: deutlich weniger Entertainment und ausserdem, das werde ich dem Veranstalter audaxclub-sh.de auch nochmal stecken: das geht so nicht. Eine 24er Gruppe in 2er Reihe ist draussen in der Mark ja vielleicht noch ok, je dichter man an Berlin kommt, sagen wir mal ab Nauen, ist die einfach nur gefährlich, denn sie ist ja 30 m lang und somit doppelt so lang wie ein Sattelzug. Das verleitet Autofahrer zu sehr gefährlichen Überholmanövern, da spielt es hinten raus auch keine Rolle, wer die Schuld am Unfall hat.
Auch die längste Tour ist mal zu Ende, im Ziel checke ich mein Handy und - Zug fällt aus. Sofort beim Betriebssport angefragt, die haben einen Bus nach HH, der Räder mitnimmt - alles ausgebucht. Da sagt Steffi zu mir: "Du kannst bei uns übernachten, mein Mann hat schon Feldbetten für irgendeinen spartanischen Urlaub gekauft, die kannst Du nehmen." So habe ich es mir irgendwie nicht vorgestellt! Immerhin haben wir uns für nächstes Jahr in einen Italienurlaub verabredet, mal sehen was das wird, ich denke, ich nehme sicherheitshalber noch eine andere mit.
Kleine Umarmung, ihr Mann holt sie ab und ich dann auf eigener Achse nach Spandau. Mit hoher Bahnroutine und Stresstoleranz inklusive meine geliebten Janelle (das Rad, Du Nase, weisst Du doch!) und eines Rucksacks habe ich mich irgendwie nach HH durchgekämpft, dank der ganzen Aufregung hatte ich überhaupt keinen Bock mehr auf den Roten, den ich mir für die Siegesfeier im Zug mitgenommen habe. Der Zug passiert Stellwerk Maschen, "Got sei dank" denke ich, jetzt kann nichts mehr passieren! Da kommt die Durchsage: "Blindgänger auf einem Schulhof auf der Schanze. Wegen der Entschärfung fallen alle Züge nach Norden aus." So musste ich mich, gar wie ich war, noch abholen lassen. Und deja vu: meine Tochter, die mich schon heute morgen mit dem Hoodie gerettet hatte, opferte sich auch nun wieder. Das gibt ganz viele Karmapunkte und ich bin sicher, dass das eines Tages nochmal richtig teuer für mich wird. Aber egal. Gib und Dir wird gegeben.
Nochmal ein Blind Date? Warum nicht. Steffi wiedersehen? Auch. Nochmal HH-B? Wie sagte noch der Weltweitüberallstarter, längst in Rente, den sie bei Ironman immer am Nasenring durch die Arena führen? "As long as the body says yes I´ll keep going!" Ich denke, Dir kann ich es ja sagen, ich bin keinen Deut besser als er.
Ach ja,schon oft geschrieben, heute nochmal mit Edding unterstrichen: es ist ein endgeiles Gefühl, nach einem ganzen Tag im Sattel das Berliner Ortsschild zu sehen.
Bis bald mal,
jannjazz
