Schön, dass wir und zumindest einig sind, dass die Frage nach dem "Kommt etwas nach dem Tod?" zuerst geklärt werden musste, bevor man zur Frage "Wie mache ich das Leben nach dem Tod möglichst angenehm?" kommen konnte. (...)
Du beschreibst das Henne-Ei-Problem. Ich bin nicht sicher, ob es lohnt, dieses "Problem" weiter zu verfolgen, es sei denn, es wäre für Dich von zentraler Wichtigkeit. Aus anderen Zusammenhängen wissen wir bereits, dass die Henne-Ei-Frage eine sinnlose Frage ist, die anders gestellt werden muss, wenn sie sich nicht im Kreis drehen soll.
Religiöse Inhalte entwickeln sich mit der Zeit. Die heutigen Christen glauben, die Inhalte wären auf einen Schlag von Mose und Jesus verkündet worden, so wie wir sie heute kennen. Du fügst hinzu, dass es eine Antwort auf bereits bestehende Ängste gewesen sein müsste (erst das Bedürfnis, dann die Befriedigung). In Wahrheit haben sich die Inhalte jedoch "Zug um Zug" entwickelt; der eine Zug war die Antwort auf den anderen, und so weiter.
Das Christentum durchlief mehrere Phasen. Zuerst war von einem ewigen Leben überhaupt nicht die Rede. Man starb, und das war's. Später entwickelte Paulus die Theorie, unsere Sünden würden durch den Tod von Jesus vergeben und man erlangte das ewige Leben. Wer genau? Alle Christen, egal was sie taten, sofern sie sich nur zu Jesus bekannten. In beiden Phasen gab es keinen Grund zur Angst: Entweder es war einfach Schluss, oder man lebte ewig in Glorie. Eben darin bestand die "Frohe Botschaft" des Neuen Testaments. Wozu also Angst haben?
Die Angst wurde in der nächsten Phase durch Augustinus eingeführt, im Jahr 396, der plötzlich darlegte, dass keineswegs alle Christen das ewige Leben bekommen würden; im Gegenteil, die meisten würden es nicht bekommen. Die Ungläubigen sowieso nicht, aber auch die meisten Christen nicht. Erst dadurch entstand die Angst, man dürfe nicht als Sünder sterben, sondern müsse mit weißer Weste vor das große Gericht treten. Vor diesem Datum gab es die Angst nicht.
Wenn uns diese Ängste angeboren wären, dann hätte es nicht bis zum Jahr 396 gedauert, dass jemand darauf hinweist. Übrigens sind Augustins Schriften ein schäumendes Meer aus Wahnsinn und Dummheit. Die Erbsünde, die Sexualmoral und die Geringschätzung der Frau in den christlichen Kirchen basieren bis heute auf seinen Schriften. Weder Moses noch Jesus haben je von einer Erbsünde gesprochen oder eine Sexualmoral formuliert. Christen denken bis heute, das stünde alles in der Bibel.
Zwar stimmt es, dass aus unserer heutigen Sicht viele Religionen einen Unterweltgedanken haben, bei dem Angst eine Rolle spielt. Geht man jedoch weiter zurück, um zu untersuchen, wann diese Unterweltgedanken einflossen und welche Quellen dafür verwendet wurden, dann stellt man fest, dass dieser Unterweltgedanke in den betreffenden Religionen zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt eingeführt wurde, und vorher nicht bestand. …
Die Angst wurde in der nächsten Phase durch Augustinus eingeführt, im Jahr 396, der plötzlich darlegte, dass keineswegs alle Christen das ewige Leben bekommen würden; ... Vor diesem Datum gab es die Angst nicht.
Wenn uns diese Ängste angeboren wären, dann hätte es nicht bis zum Jahr 396 gedauert, dass jemand darauf hinweist.
Du argumentiert wieder an meiner Antwort vorbei (und mal wieder nur mit Bezug auf das Christentum,obwohl die These von Captainbeefheart nicht auf eine Religion beschränkt war). Ich bezog mich auf eine allgemeine Angst vor dem Tod. Du bist wieder bei der Angst vor der Hölle.
Nochmal: Die Fragestellung war: Warum haben Religionen auch heute einen hohen Stellenwert?
Captainbeefheart hat eine These aufgestellt, die du angezweifelt hast, wobei deine Argumentation an seiner These vorbei ging. Die Angst vor der Hölle wird niemand dazu bringen, einer Religion beizutreten, da sie bereits den Glauben an ein ewiges Leben, also an die Religion, voraussetzt. Diese Angst kann sich eine Religion nur zunutze machen, wenn sie die Gläubigen vorher für sich gewonnen hat. Das war aber die ursprüngliche Fragestellung: Was bewegt Menschen, einer Religion beizutreten?
Du kannst jetzt gerne den nächsten wissenschaftlichen oder historischen Exkurs starten. Was die Fragestellung, die Captainbeefheart angesprochen hat und auf die ich mich bezog, angeht, gingen deine letzten Beiträge aber am Thema vorbei.
M.
Ich glaube auch nicht, dass die von mir genannten Ängste angeboren sind, sondern sich mit dem Denken entwickeln. Der Mensch hat sich irgendwann als Individuum mit eigenen Verstand begriffen. Ab diesem Zeitpunkt war die Frage nicht mehr weit, ob dieser Verstand an den Körper gebunden ist.
Schade, ich hätte nämlich stark damit gerechnet, gerade von Dir eine qualifizierte Einschätzung zu der Problematik zu erhalten!
Zitat:
Zitat von LidlRacer
Hier wollte bisher niemand Euren Begriffshaarspaltereien folgen, und das wird wohl auch weiterhin nicht passieren.
Den Überblick und die hellseherischen Fähigkeiten bewundere ich zwar, muß aber bezüglich der vermuteten Absichten enttäuschen: Auf Follower bin ich gar nicht aus.
Im Übrigen scheint mir, wenn ich den Gesprächsverlauf anschaue, der Hinweis auf so manche ganz einfache Begriffsdifferenzierung nötiger zu sein als Du Dir vielleicht wünschen magst, z.B.:
M., Du kritisierst, dass ich mich nicht "allgemein" auf die Religion beziehe und stattdessen nur das Christentum berücksichtige.
Wenn eine These allgemein richtig ist, dann ist sie auch im konkreten Fall richtig. Wenn die Prüfung im konkreten Fall fehlschlägt, dann ist auch die allgemeine These widerlegt. Aus diesem Grund argumentiere ich gerne konkret.
Um "allgemein" über die vielen Religionen zu urteilen, müsste ich die Mehrzahl davon gründlich kennen; außerdem die Rahmenbedingungen, in denen sie wirksam sind. Dazu bin ich nicht imstande. Von mir aus können alle, die sich besser auskennen, weiterhin "allgemein" debattieren, und ich werde dann sehen, ob ich eine Übereinstimmung im konkreten Fall des Christentums erkennen kann.
Zitat:
Zitat von Matthias75
Die Angst vor der Hölle wird niemand dazu bringen, einer Religion beizutreten, da sie bereits den Glauben an ein ewiges Leben, also an die Religion, voraussetzt. Diese Angst kann sich eine Religion nur zunutze machen, wenn sie die Gläubigen vorher für sich gewonnen hat. Das war aber die ursprüngliche Fragestellung: Was bewegt Menschen, einer Religion beizutreten?
Es geht Zug im Zug. Die Leute waren bereits gläubig, abergläubisch, oder mystisch. Diesen Schritt hatten sie bereits vollzogen; oft einfach aus Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, aus Tradition, oder weil die Gesetze es verlangten. Später wurden neue Inhalte hinzugefügt, etwa weil bestimmte Einflüsse durch Eroberungen in eine Kultur getragen wurden, oder weil Aristoteles plötzlich wieder "in" war, oder weil Handelsreisende etwas erzählten, oder weil die Jesus-Legende sich ausbreitete.
Deswegen habe ich beschrieben, wie ein bereits bestehender Glaube (das Judentum) Schritt für Schritt verändert wurde. Es war nicht so, wie Du behauptest, dass ein Henne-Ei-Problem bestand. Sondern die Dinge rückten langsam und gemeinsam (!) in die heutige Position: die Gläubigen ebenso wie die Inhalte, an die sie glauben; die Angst ebenso wie deren Auflösung.
Eine Religion kann Problem und Lösung auch gleichzeitig als Paket anbieten. Es muss nicht zuerst das Problem ungelöst bestehen, und anschließend erfindet jemand eine Lösung. Die Römer hatten keinen Bedarf an Hölle und Erbsünde. Es war nicht so, dass sie einen unerfüllten Bedarf hatten, und plötzlich erschien das Christentum mit der Lösung. Verdammnis und Erlösung wurden gleichzeitig versichert und überzeugten als Einheit. Jene Leute, die an Erlösung interessiert waren, wussten zuvor überhaupt nicht, dass sie verdammt waren. Verdammnis und Erlösung wurde ihnen zur gleichen Zeit verabreicht. (Gewalt hat ebenfalls geholfen, falls die Gläubigen sich widerspenstig zeigten.)
Ja, und? Das wissen wir doch alle. Die Angst vor den Tod kommt aus dem Selbsterhaltungstrieb und ist angeboren. Das Christentum macht sich das zunutze und steigert diese Angst. Von dieser speziellen Angst ist hier die Rede. Sie ist nicht angeboren sondern kulturell erworben.
Deshalb hat die katholische Kirche den Ablasshandel betreiben können. Sie nahm Geld von den Menschen für das Versprechen, dass die Qualen im Jenseits entsprechend kürzer ausfallen.
Mit diesem Betrug wurden märchenhafte Summen verdient. Denn die Kirche kassierte die Kleriker ab: Diese mussten zunächst die Rechte von der Kirche erwerben, natürlich gegen Geld. Wer besonders viel zahlte, erwarb damit das Recht, besonders viel Sünden "abzulassen" und gutgläubige Menschen besonders stark abzukassieren.
(Ablässe gibt es übrigens ganz offiziell in der katholischen Kirche auch heute. Das Handbuch der Ablässe wurde zuletzt im Jahr 1999 aufgelegt. Wer’s nicht glaubt, schaut bei Wikipedia.)
Es gibt theologische Arbeiten aus vergangenen Jahrhunderten, die sich mit der Frage beschäftigen, wie bei einer schweren Geburt zu verfahren sei. Angenommen, es besteht die Gefahr, dass das noch ungeborene Baby die Geburt nicht überstehen könnte. Es würde dann ungetauft versterben und demnach in der Hölle landen, befürchtete man damals. Also schien es vernünftig, notfalls das Leben der Mutter zu opfern und den Embryo im letzten Moment aus der Mutter herauszuschneiden. Das hat zwar den Tod der Mutter zur Folge, jedoch ist diese bereits getauft und kommt nicht (sicher) in die Hölle. Also schien es vernünftig, zunächst das Baby vor der Hölle zu retten. Wie wir alle wissen, gab es damals keinerlei Betäubungsmittel.
Diese an paranoide Wahnvorstellungen grenzende Angst vor der Hölle war für die Menschen damals etwas ganz Konkretes. Luther soll mit einem Tintenfass nach dem Teufel geworfen haben. Diese Angst kommt ganz eindeutig aus der christlichen Theologie und sonst nirgendwo her.
Waren die Theologen, Ärzte und Hebammen vielleicht verrückt? Ganz sicher nicht, vielleicht waren es sogar ausgesprochen kluge und emphatische Menschen. Verrückt war jedoch ihr Glaube, der ihnen vormachte, dass selbst Neugeborene im ewigen Höllenfeuer landen, nur weil sie nicht getauft sind.
Es ist ja sehr erfreulich, daß Du und Jörn sehr besorgt um die Ängste der Christen seid. Den anderen Gesprächsteilnehmern ging es aber in ihrer Argumentation um die Angst vor dem Tod, nach wiederholten Hinweisen ausdrücklich im Unterschied zur Angst vor der Hölle.
Zitat:
Zitat von Klugschnacker
Die Angst vor den Tod kommt aus dem Selbsterhaltungstrieb und ist angeboren. Das Christentum macht sich das zunutze und steigert diese Angst.
Das ist eine fast schon alberne Verkürzung der Zusammenhänge.
Es ist ja sehr erfreulich, daß Du und Jörn sehr besorgt um die Ängste der Christen seid. Den anderen Gesprächsteilnehmern ging es aber in ihrer Argumentation um die Angst vor dem Tod, nach wiederholten Hinweisen ausdrücklich im Unterschied zur Angst vor der Hölle.
Die Angst vor dem Tod (nicht vor dem Sterben) ist die Angst vor dem, was aus dem Tod resultiert. Im Christentum resultiert das Weiterleben im Jenseits, entweder in der Hölle oder im Himmel. Die Angst vor dem Tod ist also die Angst vor dieser Weichenstellung und dem Weiterleben in Himmel oder Hölle. Das ist jedenfalls die christliche Lesart, bzw. das, was das Christentum dieser Frage hinzugefügt hat. Es besteht ein Zusammenhang zwischen „Tod“ und „Hölle“. Dadurch ist es für die Frage relevant.