Lionel Sanders hat ein neues Video. Das Wichtigste: Er ist glatt rasiert.
Weil dies zur Abwechslung ein ziemlich interessantes Video ist, gebe ich hier mal den Inhalt im Detail wieder, auch für die diejenigen, denen Sanders Sprache etwas Probleme bereitet.
Er erzählt, dass er 1 Stunde 40 Minuten bei 200 Watt auf dem Rad saß, Geschwindigkeit 31,2 km/h. Eine gemütliche Ausfahrt mit Erin und Talbot Cox(?) - er überanstrengt sich also nicht. Er hat keine Schmerzen und freut sich, dass er wieder trainieren kann. Er hat etliche Empfehlungen von Ärzten und Physios erhalten, die wohl nicht alle gleichlautend waren. Er hat ein "relativ konservatives" Vorgehen gewählt ("sehr konservativ" wäre gleichzusetzen mit null Sport), weil er meint, dass der Knochen sich unter leichter Belastung besser regeneriert. Die Empfehlungen liefen darauf hinaus, dass er auf jeden Fall nicht nur keine Schmerzen bei Belastung haben sollte, sondern sich auch weit unterhalb der Schmerzschwelle bewegt.
Das war das Radprogramm in den vergangenen zwei Wochen: In der ersten Woche unter 150 Watt, in der zweiten Woche fast 200 Watt. Seit Beginn der Reha sind am Ende der zweiten Belastungswoche 6 Wochen vergangen. 6 Wochen gibt er als Minimum für die Heilung an; 6 bis 8 Wochen sind der normale Zeitraum für einen weniger schwerwiegenden Bruch ("minor fracture"). Seiner fällt aus dieser Kategorie heraus und die Heilung dürfte eher 10 Wochen dauern. Weil er vom Sport lebt, will er sichergehen, dass kein Muskelschwund eintritt und dem Knochen eine angemessene Stimulation zur schnellen Heilung geboten wird.
Frage an Sanders, während man sieht wie er Akupunktur-Nadeln ins Gesäß gesteckt bekommt: Andere Sportler mit dieser Verletzung haben 6 bis 7 Monate keine Rennen bestritten. Warum lässt er sich nicht so viel Zeit?
Sanders antwortet, dass es wohl um Jan Frodeno und Ben Hoffman geht. Der Grund dafür, dass die beiden so lange in keine Rennen bestritten haben war nicht die Verletzung, sondern dass die Triathlon-Saison vorbei war, nach der 70.3 Weltmeisterschaft. Die beiden machen generell keine späten Rennen. Ben macht höchstens mal späte Rennen zur Validierung.
Hätten sich beide am Anfang der Saison verletzt, so ist er sich sicher, wären sie es genauso vorgegangen wie Sanders. Und sie wollen nach Kona. Jedes Jahr, in dem sie Kona verpassen, ist ein verschwendetes Jahr. Die Uhr Tickt, sie werden alle nicht jünger.
Sanders lässt sich tatsächlich mehr als 12 Wochen Zeit. Die Verletzung war am 26. März. Mit April, Mai und Juni sind es fast 14 Wochen bis er wieder mit dem Lauftraining beginnt. So gesehen ist sein Vorgehen "sehr konservativ".
Sein Physio erläutert - etwas verworren - dass sie das Fundament für Kraft und die Rückkehr in den Sport erstellen. Sanders ist Rad gefahren, geschwommen, nur Laufen fehlt noch.
Frage: Wird er dieses Jahr den Ironman-Weltrekord in Mont Tremblant angreifen?
Sanders lacht und grunzt.
Nachfrage: Was ist sein Ziel dort? Will er beim Rennen in Top-Verfassung sein?
Sanders meint, das sei offensichtlich unmöglich, nach weniger als 2 Monaten Lauftraining. Wenn er am 24. Juni damit anfängt, hat er starke 6 Wochen. Er geht davon aus, dass er in der besten Radform seines Lebens sein wird. Gleiches gilt fürs Schwimmen. Er geht davon aus, dass es ein spannendes Experiment wird, zu dem ihn die Verletzung gezwungen hat, auf das er sich aber freut: Das ist die eine Konstellation, die er nie ausprobiert hat. Er hat bei einem Ironman noch nie den Radpart beendet, ohne dass er komplett am Ende war und sich fragte, wie er den Marathon noch überstehen soll. Er war in sehr guter Form, war aber - durch fehlende aerobe Fitness, Ausdauer oder was auch immer - nie in der Lage den Radpart in viereinhalb Stunden hinter sich zu bringen, ohne dass dies anstrengend war. Er sieht dies als hervorragende Möglichkeit, diesen Zustand nun herbeizuführen.
Sein Physio zeigt ihm dann noch an einem Knochenmodell, wo der Bruch ist, auf der linken Seite, tief in der Hüfte.
Frage: Ist sein Ziel irgendwie nach Kona zu kommen oder wird er auf seinen Körper hören? Im schlimmsten Fall macht sich die Verletzung wieder bemerkbar, würde er dennoch in Mont Tremblant antreten um nach Kona zu kommen?
Sanders verneint das, er sei kein Idiot. Er möchte die Saison gut zu Ende bringen. Er wird auf seinen Körper hören und er möchte trainieren, für seine geistige und körperliche Gesundheit und sein Wohlbefinden, ganz unabhängig von seinem Beruf. Wenn mehr Zeit für die Heilung nötig ist, wird er sich diese nehmen. Er hat ein gutes Team um sich, das konservativ vorgeht. Die Belastung wird sehr langsam gesteigert. Am Ende des Trainings soll immer das Gefühl da sein, er hätte deutlich mehr tun können. Und das so lange bis sie aus dem 9-bis-12-Wochen-Fenster draußen sind, das für die Knochenregenration nötig ist.
Menschen haben sich schon immer Knochen gebrochen. Vor 100 Jahren wurden diese nach kurzer Ruhephase belastet, weil der Lebensunterhalt verdient werden musste. Es ist ein Luxus, 3 Monate lang nur herumzusitzen und nichts zu tun. Die meisten Menschen, die einen Knochenbruch erleiden, können sich das nicht erlauben.
Frage: Kann man davon ausgehen, wenn er in Mont Tremblant antritt, dem letzten möglichen Rennen für die Kona-Qualifikation, dass er unter Umständen etwas suboptimal vorbereitet antritt, weil er vermeiden möchte übertrainiert und verletzt zu sein?
Sanders wiederholt, dass das ein tolles Experiment wird. Was die Vorbereitung angeht, so wird diese, im Gegensatz zur Vergangenheit, ähnlich sein wie bei vielen anderen guten Athleten. In der Vergangenheit ist Sanders hohe Umfänge gelaufen. Und wenn er sich so umhört, hört er dass die Topstarter sagen, dass sie keine 120 bis 160 Kilometer pro Woche, eine Woche nach der anderen, laufen könnten ohne sich zu verletzen. Sanders wird also eher bei 80 bis 100 Kilometer pro Woche landen. Das ist aber aus seiner Sicht angemessen.
Er hat in der Vergangenheit so wenig auf dem Rad trainiert, dass er dadurch Zeit hatte, mehr zu laufen. Für einen Solo-Marathon wäre er in den letzten Jahren in herausragender Form gewesen und zweifellos in der Lage, einen 2-Stunden-20-Marathon zu laufen. Leider ist das aber nicht das, was im Triathlon gefordert wird. Deswegen meint er, dass Cameron Wurf für die Zukunft beste Aussichten hat, weil der Ironman so radlastig ist und Radfahren mehr als 50% der Renndauer ausmacht. Ein extrem guter Radfahrer wir immer im Vorteil sein, weil der anschließende Marathon so verhalten gelaufen wird.
Jeder der Top 20 kann einen Solo-Marathon deutlich unter 2:35 laufen. Viele der Topleute können unter 2:30 laufen, einige unter 2:25 und eine Handvoll unter 2:20. Aber niemand läuft diese Zeiten im Ironman, weil dort so submaximal gelaufen wird. Eine 2:45 ist 20 Minuten langsamer als das Potenzial einiger Athleten. Es ist natürlich wichtig, fit fürs Laufen zu sein, aber man muss extrem fit fürs Rad sein.
Natürlich legt man sich als Athlet die Dinge so zurecht, dass sie sich positiv darstellen, und das versucht Sanders gerade zu tun. Er wird extrem fit fürs Schwimmen und damit schnell sein, extrem fit und ausdauernd auf dem Rad, und der Lauf ist für jeden eine Qual, stellt jedoch eine submaximale Anstrengung dar.
Bei Übungen mit leichten Gewichten philosophiert er darüber, dass man es nicht würdigt, wie toll es ist, einen funktionierenden Körper zu haben - so lange bis der Körper nicht mehr funktioniert. Sanders läuft seit 20 Jahren, er hat sich einen Großteil seiner Fitness bewahrt und er hat keinen Zweifel, dass er direkt nach der Verletzungspause 4-Minuten-Kilometer über die Dauer eines Halbmarathons laufen könnte. Er ist viele tausend Meilen gelaufen, viele davon schnell, und das gibt sein Körper einfach immer her.
Man hört von herausragenden Läufern, die 2 oder 3 Jahre ausgesetzt haben, dass sie bei ihrem Comeback sehr schnell wieder an alte Leistungen anknüpfen können. Und dann verletzen sie sich, weil das motorische Gedächtnis noch vorhanden ist, aber der Rest des Laufapparates nicht Schritt halten kann. Er macht aber keine Pause von Jahren, sondern nur von einigen Monaten. Es wird ein tolles Experiment und er geht davon aus, dass er viel lernen wird.
Frage: Meint er, dass ein Teil seiner Verletzung aus seinem humpelnden Laufstil resultiert? Und versucht er während der Regeneration auch daran zu arbeiten?
Sanders antwortet, dass niemand weiß, was die Ursache war. Es ist alles Spekulation. Er weiß das so gut, weil er 3 Wochen lang zu verschiedenen Spezialisten gegangen ist und keiner die Antwort wusste. "Ermüdungsbruch", "Übertraining", "Laufstil" - alles Spekulation. Niemand weiß es.
Was er sicher weiß, ist, dass er direkt auf seinen Hintern gefallen ist, in genau dem Bereich, wo der Bruch vorliegt. Lag vorher eine Schwächung des Knochens vor, ein Vitamin-D-Mangel, hat der Laufstil dies begünstigt? Keine Ahnung, es ist unwichtig. Er beugt einem potenziellen Vitam-D-Mangel mit Sonnenlicht und Kakaomilch vor. War die Struktur durch schlechte Hüftstabilisation geschwächt? Keiner weiß es. Aber er startet ein Programm, dass sicherstellen soll, dass die Hüfte stabil ist, dass der Rumpf stabil ist.
Und zuletzt: War es sein Laufstil? Das ist ein viel delikateres Thema. Denn viele erfolgreiche Läufer haben versucht, an ihrem natürlichen Laufstil herumzuschrauben und wurden dadurch langsamer oder verletzungsanfälliger. Man muss hier sehr vorsichtig sein. Er hat aber festgestellt, dass sein Laufen sich im Lauf der Jahre verschlechtert hat. Und diese Frage muss beantwortet werden.
Er arbeitet an diesem Problem mit einem hervorragenden Lauftechnik-Coach, der ihn gefragt hat, wie er beim Schwimmen atmet. Sanders atmet immer rechts. Der Coach ist der Meinung, dass diese einseitige Atmung in den 10 Jahren seiner Triathlon-Karriere Sanders auch als Läufer verändert hat. Man berücksichtigt oft nicht, welche Veränderungen die dauernde Wiederholung einer Bewegung bewirkt. Auch hier ist die Verletzung ein Segen, weil er nun angefangen hat, zu beiden Seiten zu atmen. Dafür hat er sich vorher nie die Zeit genommen. Das ist viel ausgeglichener und besser für die Schwimm-Mechanik. Natürlich wird man im Rennen, wenn man mehr Luft braucht, so amten, wie man sich am wohlsten fühlt. Aber im Training soll es so ausgeglichen sein wie möglich.
Es ist ihm nicht das Wichtigste, herauszufinden, warum er humpelt. Natürlich, wenn sich das angehen lässt, dann wird es gemacht. Aber nur durch sehr, sehr erfahrene Spezialisten und mit Hauptfokus darauf, dass es sich nicht verschlechtert. Und das betrifft ganz besonders die zweite Hälfte des Marathons. Es geht nicht darum, Sanders aussehen zu lassen wie Elliot Kipchoge. Das wäre lächerlich und würde definitiv zu Verletzungen führen.
Der vorhin erwähnte Spezialist meinte auch, dass man sich 10 der besten Läufer schnappen könnte und wenn man sich diese anschaut, ohne gleichzeitig auf die Uhr zu sehen, kann kein Coach sagen, wer der beste Läufer ist. Der Laufstil bestimmt nicht die Geschwindigkeit. Bei Läufern, die den Marathon unter 2:10 laufen können ist alles vertreten: Fersenläufer, Mittelfußläufer, Vorfußläufer, Kuriositäten, O-Beine.
Dann stellt Sanders noch seinen Physiotherapeuten, Samuel Rockwater vor, und holt sich die Erlaubnis, ihn auf YouTube zu zeigen.
Am Schluss sieht man Sanders wieder auf dem Sofa und er erzählt, dass sie demnächst Golf spielen gehen. Allerdings zu einem Trainingsplatz mit Umzäunung, weil sie kein Geld mehr für neue Bälle haben. Talbot Cox ballert sonst alle ins Gebüsch.