Ok, eigentlich wollte ich ja den Experten den Vortritt lassen, aber ich habe jetzt doch niedergeschrieben, was sich so an Gedanken angesammelt hat.
Als erstes, solltest du versuchen, das System aus TSS, CTL, ATL und TSB zu durchdringen. Vieles wird da gerne verkürzt, vereinfacht oder sogar falsch kommuniziert.
Grundlage für die Berechnungen ist der TSS, also der Trainingsstress. Der TSS wird über die Schwellenwerte (FTP oder Schwellenpace/-puls) berechnet. Daran erkennt man sofort, dass die nachfolgend ermittelte CTL kein Wert für die (absolute) Fitness ist, sondern immer nur eine relative Fitness bezogen auf deine individuellen Schwellenwerte. Daher würde ich CTL auch niemals mit Fitness übersetzen, sondern höchstens mit relFitness, ich schreibe aber grundsätzlich nur von CTL und niemals von Fitness, weil das meiner Meinung viel treffender ist. Wenn du eine CTL von 100 hast und Arne auch eine CTL von 100 hat, dann wird Arne trotzdem schneller sein. Das wird noch wichtig, wenn wieder so pauschalisierte Empfehlungen kommen, dass für eine Mitteldistanz die CTL bei 80 liegen sollte. Diese Aussagen kommen gerne von Sportlern die schon jahrelang trainieren und entsprechend hohe Schwellenwerte haben, das kann für dich aber auch völlig daneben liegen.
Für mich persönlich schätze ich dazu noch eine maximal erreichbare CTL ab, das steht nirgends in der Literatur sondern ist auf meinem eigenen Mist gewachsen. Für mich persönlich schätze ich meine maxCTL auf 130-140. Das ergibt sich zum einen aus der physisch/orthopädischen Belastbarkeit, zum anderen aus dem Zeitbedarf. Höhere CTL erfordert mehr Trainingszeit, da stößt man mit Arbeit, Familie,... irgendwo an ein Limit. Physisch/orthopädisch ist auch klar, man verkraftet einfach nur einen bestimmten Traininsstress ohne sich zu verletzen. Die Differenz aus meiner aktuellen CTL und der maxCTL zeigt mir auf, wieviel Potential ich noch habe. Ausserdem hilft mir das bei der langfristigen Planung. Bei einer maxCTL von 130 macht es keinen Sinn, 6 Monate vor dem Wettkampf schon bei 110 zu liegen. Da bleibt zu wenig Spielraum für weitere Steigerungen.
Jetzt wird es nocheinmal individuell, du musst dir auch überlegen, welche Ziele du hast. Wenn du dein Potential voll ausschöpfen willst, dann musst du dich erstmal über einen längeren Zeitraum an deine maxCTL heranarbeiten und dann noch 2-3 Jahre in diesem Bereich trainieren. Willst du das? Viele Sportler wollen einfach nur Spaß haben und etwas gutes für die Gesundheit tun, dann bist du mit einer CTL von 40-50 schon super unterwegs und machst wesentlich mehr als der Durchschnittsbürger. Für mich steht z.B. grundsätzlich der Spaß im Vordergrund, ich gehe aber auch gerne auf lange Strecken und strebe deshalb eine CTL von 120 (in der Peakphase) an. Ich habe aber nicht das Ziel, mein Potential voll auszuschöpfen. Im Wettkampf denk ich mir auch immer, lieber etwas langsamer und dafür 100% Spaß von Start bis Ziel, als völlig abgekämpft und spaßbefreit mit Bestzeit über die Ziellinie zu fallen.
Jetzt zurück zu deinen Fragen. Du schreibst, du könntest auch mehrere Wochen mit 600TSS trainieren. Diese Aussage ist gefährlich, denn oft geht das mehrere Wochen gut und dann kommt trotzdem plötzlich eine Verletzung weil es auf Dauer eben doch etwas zu viel war. Angenommen du willst Mitte Juli eine MD machen, dann könntest du dir für Ende Juni ein Ziel von 90 CTL setzen. Du müsstest also in 25 Wochen um 40 Punkte steigern, also ca. 1,6 Punkte pro Woche. Du könntest dein Training so planen, dass du immer drei Wochen lang um 2 Punkte pro Woche steigerst und dann wieder eine Entlastungswoche hast, wo du weniger machst. Um dich auf eine CTL von 90 zu steigern, musst du in den Peak-Wochen ca. 700TSS pro Woche trainieren. Da musst du dich langsam hinarbeiten. Am besten fährt man mit kontinuierlichen Steigerungen, es macht also keinen Sinn, wenn du jetzt schon mit 600TSS/Woche trainierst. Lieber langsam und kontinuierlich aufbauen. So lange die TSB bei -10...-20 liegt ist alles gut, in Entlastungswochen darf es auch eine 0 oder leicht positiv werden. Fixiere dich aber nicht auf die Zahlen, eine TSB von -32 ist auch nichts schlimmes. Wenn du dauerhaft in dem Bereich bleibst, dann fährst du aber am Limit. Besser immer auf der sicheren Seite bleiben. Andererseits darfst du auch nicht vergessen, dass du als Anfänger größere Fortschritte machst und auch ab und zu die Schwellenwerte korrigieren musst, sonst wird dein TSS überschätzt und die ganze Rechnerei ergibt nur Unsinn.
Zu guter letzt musst du natürlich abschätzen ob dein Vorhaben MD überhaupt realistisch ist. Dazu die Situation heute betrachten, kannst du jetzt schon 90km locker in 3h Radeln? Dann sollte es kein Problem werden. Schaffst du in 3h nur 70-80km und bist danach platt, dann kann es knapp werden. Dazu musst du aber auch noch deine Entwicklung berücksichtigen, wie war deine Entwicklung in den letzten 12 Monaten und wie schätzt du deine Entwicklung für das nächste Jahr ein?
Nicht zu letzt nochmals der Hinweis, diese ganze Zahlen sind nur Theorie und fehlerbehaftet, klammer dich da nicht dran sondern achte auf dein subjektives Körpergefühl. Verletzungen kündigen sich oft schon vorher an und hinterher denkt man sich, hätte ich das Ziehen in der Wade doch ernst genommen