Während das traditionsreiche Paris-Brest-Paris nur alle vier Jahre abgehalten wird, bot sich mit der seit 12 Jahren in Folge veranstalteten „Großen Acht durch Bayern“ letzten Donnerstag die Möglichkeit, den Fahrspaß auch dieses Jahr über die magische 1.000-Kilometer-Grenze zu steigern. Zu bewältigen waren 1.024 km mit ca. 10.000 Hm in maximal 75 Stunden.
Der Streckenverlauf stellt eine Kombination der 600er- und 400er-Strecke dar, jedoch jeweils entgegen der normalen Fahrtrichtung gefahren. Von Pappenheim geht es zunächst an Augsburg vorbei gen Süden bis Bad Tölz, alsdann entlang der Alpen zum Chiemsee und über Wörth an der Isar und Kelheim zurück nach Osterdorf. Psychologisch tückisch lauern dort nach ca. 600 Kilometern warme Verpflegung, Duschen und eine Schlafmöglichkeit dem vorermatteten Pedaleur auf. Gelingt es ihm, den Fängen dieses langdistanziösen Äquivalents der Venusfliegenfalle zu entgehen, so findet er sich auf einer 400 Kilometer langen zweiten Runde um Nürnberg wieder, hinein in die Fränkische Schweiz und oberpfälzer Landschaften. Der Streckenverlauf im Ganzen:
LINK
Die Teilnehmerzahlen sind wie eigentlich immer im Jahr nach PBP relativ gering. Bei 33 Startern darf eher vom harten Kern der Randonneurszene ausgegangen werden. Man kennt sich überwiegend. Ein Niederländer sorgt für internationales Flair. Nach entspannter Anreise am Vortag (gell, Pioto?) und ausgiebigem Frühstück fiel der Startschuss pünktlich um 10 Uhr morgens bei bereits blauem Himmel.
Direkt zu Beginn formiert sich eine Spitzengruppe von 5-8 Fahrern, die mal mehr, mal weniger zusammen fährt. Jeder sucht seinen Rhythmus. Nach meiner üblichen lockeren ersten Stunde, fühle ich mich prächtig genug, an die Spitze zu gehen und ein wenig am Gashahn zu spielen. Ich fahre ungern in der Gruppe, aber liebend gerne vorne. Wenn es gut läuft, entfaltet sich bei mir ein unbeschreiblich berauschendes Gefühl. Nach 20min eine kurze Schrecksekunde, als meine Satteltasche nach unten auf das Hinterrad fällt. Wir lernen: Conti GP4000S ist härter als Ortlieb wasserdicht. Ortlieb ist in der Folge nicht mehr ganz so wasserdicht. Die Gruppe nutzt die Gunst der Stunde, um mich am Straßenrand stehen zu lassen. Nur Urban hält mit an. Er ist halt noch ein Kumpan alter Schule. Wir sind 2010 zusammen das Schlussstück des 1000er gefahren, was irgendwie verbindet. Für ihn ist es bereits die achte (erfolgreiche) Teilnahme hier. (Der Rekord liegt übrigens bei 11x Finish.)
Nach Schadensbehebung bilden wir fortan ein Zweiergespann mit recht klarer Aufgabenteilung: einer führt, weil er angestinkert ist und die Gruppe stehen lassen will, der andere bleibt dran. Wertingen als erste Kontrolle ist schnell erreicht. Dank günstiger Beine fliegen wir förmlich weiter gen Landsberg. Landsberg finde ich schön, da gibt es immer tolle Brezen bei der Aral-Tankstelle. Salzgebäck ist aufgrund des massiv schwülen Wetters und bis zu 27°C zusammen mit entsprechender Flüssigkeitszufuhr auch dringend notwendig. Urban kündigt an, das bisherige Tempo nicht mehr ganz mitgehen zu können.
Den nächsten Abschnitt nach Bad Tölz gehen wir etwas ruhiger, wenngleich nicht weniger zielstrebig an. Immerhin stehen an der Stempelstelle nach ca. 235 km doch noch exakt 30,0 km/h auf dem Tacho. Über dem Voralpenland haben sich zwischenzeitlich die angekündigten Gewitter für die Abendstunden zusammengebraut. Wird uns das Glück noch bis zum Chiemsee hold bleiben? Es tut es. Mit nur ein bißchen Getröpfel und dem letzten Tageslicht erklimmen wir den Samerberg und nehmen die rasante Abfahrt zur Kontrolle nach Prien am Chiemsee. Der Wendepunkt der ersten Runde ist gegen 22:15 erreicht. Der Wendepunkt des Wetters eine halbe Stunde später allerdings auch.
Durch zunächst massiven Wolkenbruch gehen wir zusammen auf die nächtliche Etappe bis zur nächsten Kontrolle nach Wörth an der Isar, 110km entfernt. Das Wettergeschehen bietet eine einmalige Kulisse. Ein einziges Wetterleuchten im Westen von den Alpen bis weit nach Norden. Dazu bläst uns die erste Stunde noch ein kräftiger Rückenwind voran. Es wird jedoch zunehmend nässer, hügeliger und der Wind dreht. Urban geht die Energie aus. Während ich brav regelmäßig meine KH-Lösung trinke, ist er auf die Zufuhr fester Nahrung angewiesen, hatte jedoch schlicht keine Zeit dafür gefunden, um an mir dranzubleiben. Jetzt bekommt er kaum einen Bissen runter. Was also tun? Zu allem Unglück hat er seine Stirnlampe in Osterdorf am Start vergessen. Wir sind beide „klassisch“ nur mit Streckenplan und ohne GPS unterwegs. Kein Licht bedeutet praktisch Navigationsunfähigkeit. Da hilft nur eins: zusammenbleiben. Während er sich an den Hügeln zunehmend plagt, übernehme ich die Lotsenfunktion bei Rekomtempo. Es ist mir fast schon peinlich, wie ich da manchmal oben warte. Wörth erreichen wir nach über fünfeinhalb Stunden und halten uns fast eine Stunde im Rasthof auf. Ich lege mich für 15min hin. Drei weitere Fahrer haben zu uns aufgeschlossen und wir starten gemeinsam in den jetzt hellen Morgen.
Urban ist ein echter Freund. Er weiß, dass ich eine gute Zeit vor Augen hatte und spürt meinen Zwiespalt zwischen zusammenfahren oder alleine fahren. „Es ist jetzt wieder hell, ich kann den Streckenplan wieder lesen. Du hast so viel trainiert. Fahr.“, ist alles was er sagt. Ich zögere noch. Ganz frisch bin ich ja auch nicht mehr, 5h Rekom hin oder her. Ein paar Minuten später grinse ich ihn dann nur an, er sagt noch „Tschüß“ und los geht’s. Die ersten zehn Minuten tun weh, dann kommt der Rhythmus wieder. Die Gruppe bleibt zurück. Kontrolle in Kelheim Punkt 7 Uhr. Anschließend über die heute nicht ganz so schlimm windgeplagte Hochebene. Ein mittleres Lüftchen weht und es ist wieder richtig heiß. Aber es läuft. Nach 25h45min stehe ich vor der Venusfliegenfalle. Drei sind schon da, zwei davon hören auf wegen technischem Defekt und anstehendem Konfirmationstermin. Seit 10km überlege ich immer wieder, was nacheinander zu tun ist. 2 Teller Nudeln, Duschen, Wundversorgung (ausnahmsweise vorne statt hinten), Flaschen auffüllen, Reifen nachpumpen, weiter. Was schnell klingt, dauert 1h15. Es fehlt halt doch die Spritzigkeit. Schlafbedürfnis verspüre ich nicht. Überraschenderweise schmerzt auch nichts, die Muskulatur ist noch locker. Unser Goldschatz Heidi fragt noch, wann ich ungefähr wieder da bin, dann entlässt sie mich als Ersten auf die zweite Runde.
Es folgen 110km durch mittelfränkische Hügellandschaft (wer’s kennt: die Gegend um Spalt ist sehr reizwirksam), westlich vorbei an Nürnberg bis Heßdorf. Als ich dort wieder losfahre kommt Gerhard von hinten an und flucht gscheit niederbayerisch über die Hügel und den Wind. Er wirkt recht paniert, weshalb ich schonmal weiterfahre. Schon ein irres Gefühl, so vorneweg zu fahren. Für mich das erste Mal. Ich nähere mich Hirschaid, dem Tor zur Fränkischen Schweiz und langsam steigt der Respekt vor dem, was jetzt noch kommt. Jetzt wird sich zeigen, ob es bisher etwas zu forsch war. Die letzten 250km haben die meisten Höhenmeter. Vor zwei Jahren bin ich hier am 18-Prozenter nach Teuchatz jämmerlich eingegangen und hab mich die restlichen 200km nur noch gequält, was Urban sicher viel Geduld abverlangt hat.
Die Zeiten ändern sich und mit ihnen auch die Anstiege nach Teuchatz. Karl Weimann, der die Route zusammengestellt hat verzichtet auf die 18% zugunsten eines wüst betonierten „Weges“, der mehr oder weniger kurvenlos auf den Berg führt. Straßenschilder gibt’s hier nicht mehr, dafür Wandersymbole. Über ein paar hundert Meter hat das Ding >20%, angeblich in der Spitze sogar 25%. Ich krieg kaum die Kurbel noch rum. Karl wird hier hoffentlich schieben und es sei ihm von ganzem Herzen gegönnt. Der spinnt langsam echt. Jedes Jahr wird’s schlimmer. Kann ja wohl nicht wahr sein hier. Ein Auto kommt auch noch entgegen, also doch absteigen. Wie fährt man denn hier wieder an? Uff. Oben wartet ein Kaff namens Kälberhöhe, dass angeblich nur geradeaus durchfahren werden muss. Hat aber ne T-Kreuzung mit Auswahl links (bergab) oder rechts (bergauf). Mir entfährt ein hörbares „Sch….“. Als ich mich umsehe, sitzt keine zwei Meter neben mir ein alter Mann auf ner Bank und grinst sich einen. Höflich nach dem Weg nach Teuchatz fragen ist kein Problem. Die urfränkisch ausgesprochene Antwort verstehen dann irgendwie doch. Rechts lang und dann irgendwas von bergab. Na, sehen wir mal. Tatsächlich folgt das Sträßchen einer Rechtskurve und geht in eine wunderbare Abfahrt über. Kann aber nicht stimmen, Karl sagte was von „auf der Höhe bleiben“. Mittlerweile komplett orientierungslos beschließe ich bis zum nächsten Ort weiterzurollen. Der Blick auf die Landkarte offenbart eine Position deutlich unterhalb von Teuchatz. Also wieder den Berg raufkrabbeln. Die ganze Aktion kostet mich locker eine halbe Stunde. Wie sich später herausstellt, bin ich bei weitem nicht der Einzige, dem es so geht. Richtig wäre gewesen, an der Rechtskurve vor der Abfahrt geradeaus einen aus Rasenpflasterstein gezimmerten Feldweg zu nehmen. Den hatte ich zwar gesehen, aber logischerweise als Möglichkeit verworfen. Die einzige Stelle der Tour, wo die GPS-Fahrer klar im Vorteil waren.
Die weitere Fahrt verläuft relativ ereignislos. Der Anstieg zum Wichsenstein macht seinem Namen immer noch alle Ehre, hat seinen Schrecken nach der Kälberhöhe aber verloren. Wunderschön dann die nächtliche Fahrt entlang des Wiesenttals nach Waischenfeld. Es wird ziemlich frisch. Aus dem Gras neben der Straße schaut mich ein Fuchs neugierig an. Was man alles erlebt. Wenige Minuten später nochmal einer. Moment mal. Bin wohl deutlich müder als ich dachte. Es sind nur noch wenige Kilometer bis zur nächsten Kontrolle. Aber schlagartig kämpfe ich gegen den Schlaf. Neben einer Scheune lege ich mich nochmal hin, genieße den Anblick des sternklaren Himmels, schlafe für 20 Minuten ein, genieße nochmal den Sternenhimmel und raffe mich auf. An der Kontrolle Rasthof „Fränkische Schweiz West“ steht schon ein Fahrrad. Gerhard ist während meiner Bonusmeilen an mir vorbeigefahren und hat sich schlafen gelegt. Bei meinem Anblick erinnert sich das Personal seiner und schreitet zu rabiatem Aufwecken. Die Kontrolle ist nix für Nachtankömmlinge. Obwohl ein Rasthof an der Autobahn gibt es nichts außer ein paar Schokoriegeln zu erwerben. Der Rest ist dicht. Nichtmal Cola gibt es. Schöner Mist.
Weil wir schonmal so schön zusammenstehen, können wir auch gemeinsam weiter. Wir ergänzen uns ganz gut. Am Berg ist er nen Ticken besser, im Flachen bin ich der bessere Drücker. Er fährt nur nach GPS-Track ohne Karte und bestätigt auf Nachfrage, er habe keine Ahnung, wo er sich eigentlich befindet. Er arbeitet sich einfach die schwarze Linie auf dem Display entlang. Ich bin fasziniert. Für mich unvorstellbar, ich bin ein Landkartenmensch. Wir durchqueren die westliche Oberpfalz. Im Morgengrauen, nur wenige Minuten von der letzten Kontrolle kämpfe ich wieder dermaßen mit dem Sekundenschlaf, dass ich Gerhard vorausschicke und mich einfach neben die Straße lege. Keine fünf Minuten später hält ein Auto an, um nach dem Rechten zu sehen. Ich bedanke mich für’s Wecken und schließe wieder zu Gerhard beim Frühstück auf.
Letzte Etappe, 120 km, volle Kraft voraus. Ein paar kleine Hügel und relativ flache Stücke führen uns wieder Richtung Altmühltal. Aber die Kräfte drohen nachzulassen, der Hintern schmerzt jetzt auch ein wenig, die Müdigkeit nimmt zu. Gerhard sagt später, er habe hinter mir oft die halbe Spur gebraucht. Es wird wieder deutlich wärmer. Ein kurzer Stopp zum Umziehen. „Wie weit ist es noch?“ – „62 km“ – „Hey, dann schaffen wir ja die 50 Stunden gut.“ – „Was, willst jetzt nur noch 15er Schnitt fahren?“ – Recht hat er, ich will auch heim. Wir geben nochmal Gas. Auch die zwei letzten fiesen Anstiege sind keine echten Hindernisse mehr. Die Müdigkeit ist wie weggeblasen, wir riechen das Ziel. Der Wind versucht’s auch noch auf der Hochebene vor Osterdorf. Keine Chance. Nach genau 48h40min (40h15 netto) reichen wir uns im Ziel die Hände. Kurz darauf kommt Heidi und versorgt uns wie immer liebevoll mit allem, was das ausgehungerte Herz begehrt.
Im Lauf des Nachmittags kommen weitere Fahrer an. Sogar Urban kommt noch weit vor dem Abend an. Ich freue mich total, ihn so früh zu sehen. Er hatte sein eigenes Tempo wiedergefunden und sich dabei gut regeneriert. Kurz vor Schluss sogar noch zwei Schalen Erdbeeren auf einem Feld gepflückt. Den Inhalt seiner Lenkertasche musste er dafür unter Hose und Trikot stopfen. Verrückter Kerl!
Wer’s auch mal erleben will (gerne auch auf den kürzeren Strecken):
www.randonneure.de oder
www.audax-randonneure.de