Zitat:
Zitat von Vicky
Der 9. Novemer 1989 hat ganz sicher mein Leben verändert.
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Was habt ihr gemacht und wie habt ihr das Ganze erlebt?
LG!
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Ahnungslos frierend in einem Erdloch, nahe dem ewig ruhenden Kaiser Barbarossa im Kyffhäuser, haben wir den Funkverkehr der US-Army abgehört und konnten uns keinen Reim aus dem Kauderwelsch machen...
Aber von vorn:
Mit 18 Jahren fiel meine James-Hetfield-Gedächtnismecke in Weissenfels südlich von Leipzig am 1. September, dem Weltfriedenstag, dem Schärapparat eines NVA-Barbiers zum Opfer.
Und dann war's ziemlich lange duster, knappe 2 Monate Grundwehrdienst in einer auf Demütigung, Erniedrigung und Verdummung aufgebauten Armee.
Der einzige Lichtblick, aus diesem Kreislauf auszubrechen, war die Stunde "Freizeit", die jedem Wehrdienstleistenden am Tag zustanden.
Und während meine anderen 11 Stubengenossen Liebesbriefe schrieben, soffen oder pennten, habe ich im September 1989 mal eben HIIT, Tough-Mudder und Spartan-Races in einem Aufwasch erfunden, indem ich wie ein Blöder die 400 Meter lange Sturmbahn überwand und im Vollsprint das flache Stück zurück rannte. Täglich exakt eine Stunde, 8 Wochen lang.
Denn die einzige Chance, den Wachgängen, Schlagstocktraining und den nachfolgenden nächtlichen Fahrten im Mannschafts-LKW an das Völkerschlachtdenkmal Leipzig zu entgehen, war die Nominierung in das Kasernen-Team für den sogenannten "Militärischen Mehrkampf",
Dieser Mix aus Crosslauf, Granatenwerfen und Rumballern war sehr beliebt unter den Kommandeuren der jeweiligen Standorte und Waffengattungen, so dass es regelmäßig Rennen der Besten gegeneinander gab.
Parallel habe ich mich noch für die Fernaufklärer beworben und durfte Anfang November in den Kyffhäuser "umziehen".
Vier statt 12 Mannbude, keine 24 oder gar 48 Stunden-Wachdienste mehr, keine Maloche-Kommandos in den Braunkohletagebauen, aber täglich das Ohr am "Feind" auf der anderen Seite des Höhenrückens...
Dort bestand meine Woche aus 2 bis 3 Tagen Manöver und der Rest war Dauertraining für diesen Ballergranatenquatsch.
Und so waren wir am "Wendetag" wieder einmal unterwegs, 3 Tage Überlebenstraining mit nix ausser paar Knarren, Gasmaskenkram, Funk- und Nachtsichtgeräten. Funkverkehr der US Armee abhören - zu der Zeit sprach ich fliessend Deutsch, Tschechisch und Russisch, aber keiner von uns 16 Hanswürsten konnte auch nur einen zusammenhängenden Satz Englisch radebrechen.
Pennen fand in selbstgebuddelten Gräben statt, jeder für sich allein, denn wenn der Ami im Ernstfall unbemerkt käme, sollten von dem nicht alle auf einmal abgemurxt werden.
Fernsehen und damit die Pflichtsendung "Aktuelle Kamera" um 19:30 gab's für uns draussen an den Tagen im November natürlich nicht.
Zwei Tage später zurück in der Kaserne, gings wieder an's Trainieren für das nächste Militär-Rennen.
Den Appell der Kaserne mit der Durchsage, dass der US Aggressor zwar auch weiterhin unser Feind sei, man aber nicht genau wüßte, ob dies noch lange von Bestand bleiben könne, hatten wir dadurch - wie immer - geschwänzt.
Naja, das erste Mal "draussen" bei meiner Familie mit vielen Infos zu den Geschehnissen bisher war ich dann nach fast 4 Monaten die drei Tage über Weihnachten.
Danach gings gleich wieder bis Neujahr zum Manöver in den Busch.
Und mein erster Besuch im "Westen" fand Ostern 1990 statt.
Zu Fünft mit dem Trabbi meines besten Freundes Baffy, der mich hupend direkt vor der Kaserne einsammelte, sind wir mit Zeha-Schuhen und NVA-Schlafsäcken zum Osterlauf nach Paderborn gedaddelt.
Dort habe ich mein Begrüßungsgeld sofort zu 100% im lokalen Runners Point in ein Paar New Balance umgesetzt.
Und als die Leute dort meine Geschichte der letzten 6 Monate mitbekamen, gab's noch einen Sack voller Laufklamotten, ein Extrapaar Adidas Castella Laufschuhe und eine Gastfamilie für uns alle obendrauf!
Einzige Bedingung war:
Der Papa dort wollte das komplette Wochenende unseren Trabbi - Baffy's Erbstück!!! - fahren.
Also stellte er uns seinen Audi 200 hin und war bis Ostermontag unterwegs.
Was für ein unglaublicher Tausch für uns Simson und Trabant-Nieten.
Ich war im Schlaraffenland!
Den Osterlauf gibt es heute immer noch.
Ich war auf den damals noch üblichen 25 Kilometern mit meinen nagelneuen New Balance nach knapp 1:27 Stunden im Ziel, so glatte Straßen hatte ich bisher in meinen 19 Lebensjahren noch nie zuvor gesehen!
Und weiter geht's!