Ich glaube das ist relativ einfach zu beantworten. Ungarn lässt die Menschen einfach sterben.
Das halte ich bei Kenntnis des dortigen Gesundheitssystems (Verwandte leben dort) für eine infame Unterstellung. Die kämpfen mit schwerem Personalmangel, als was wir uns hier vorstellen können (und das bei wirklich lächerlichen Gehältern), aber sie tun alles, was menschlich möglich ist, und keiner wird abgewiesen. Und auch bzgl. sonstiger Behandlungen stehen sie Deutschland in nichts nach, dürften also einen ähnlichen Grundbedarf an Krankenhausbetten haben. Spannend wäre eine tiefere Kenntnis der beiden Systeme, um zu verstehen, woher die Unterschiede kommen, warum also dort grundsätzlich weniger Intensivbetten im Normalfall ausreichen (bei uns ist die Auslastung ja auch ohne Corona bei ca. 75 - 80 %, also weit mehr, als was Ungarn je hat).
Zitat:
Zitat von anlot
Die offiziellen Zahlen zeigen ca 30.000 Tote bei knapp 9 Mio Einwohnern. Auf D hochgerechnet sprechen wir von 200.000 Toten in Ungarn. Und das sind „nur“ die offiziellen Zahlen
Diese Zahlen finde ich tatsächlich erschreckend. Dort ist quasi 30 % des Bekanntenkreises schon mal an Corona erkrankt, hier kenne ich eine niedrige einstellige Zahl an Betroffenen persönlich. Auch in längeren Gesprächen mit den Verwandten dort konnten wir noch keine überzeugende Erklärung für die so viel höheren Fallzahlen finden, außer vielleicht in den Bereichen Lebensbedingungen (enger wohnen), Grundgesundheit der Bevölkerung, und evtl. kulturelle Eigenheiten (viel mehr Umarmung/BussiBussi bei Begegnungen) - alles schwer quantifizierbare und nicht einfach beeinflußbare Faktoren.
__________________
“If everything's under control, you're going too slow.” (Mario Andretti)
... Auch in längeren Gesprächen mit den Verwandten dort konnten wir noch keine überzeugende Erklärung für die so viel höheren Fallzahlen finden, außer vielleicht in den Bereichen Lebensbedingungen (enger wohnen), Grundgesundheit der Bevölkerung, und evtl. kulturelle Eigenheiten (viel mehr Umarmung/BussiBussi bei Begegnungen) - alles schwer quantifizierbare und nicht einfach beeinflußbare Faktoren.
Zu Ungarn habe ich eine sehr enge Verbindung, da die langjährige Freundin meines Sohnes Ungarin ist und sowohl sie als auch mein Sohn seit Jahren regelmäßig zwischen Ungarn und Deutschland hin und her pendeln.
Und im Gegensatz zu dir fallen mir auf Anhieb ungefähr hundert Gründe ein, warum es in Ungarn mehr Tote im Zusammenhang mit Covid-19 gibt.
Die politische Führung von Orban in der Pandemie ist alleine schon eine Katastrophe. Im Frühjahr kaufte Orban Impfstoffe ohne EMA-Zulassung in China, Indien und Russland ein, die nichtmal ungarische oder wenigstens englische Beipackzettel hatten, so dass die Ärzte, die sie nutzen und ihren Patienten verabreichten sollten, nichtmal sich selbst über die Lager und Verabreichungsmodalitäten vernünftig informieren konnten.
Das ungarische Gesundheitswesen ist massiv unterfinanziert. Es gibt viel weniger Elektiv-Operationen (künstliche Hüft- und Kniegelenke, Bypassoperationen, Herzkatheter gibt es dort nur für die Elite in einigen wenigen Budapester Privatkliniken, und wer es sich leisten kann fährt für solche Operationen oft sogar in den Westen). Und weniger Intensivbetten gibt es deshalb, weil ein Intensivbett wegen des damit verbundenen Personals und der dazu gehörenden Überwachungsgeräte nunmal viel Geld kostet.
Eine Intensivstation, die es nicht gibt bzw. die weniger Betten als die Intensivstation eines deutschen Akutkrankenhauses hat, kann dann natürlich auch nicht belegt werden. Und wenn die Intensivstation voll ist, dann bleibt ein eigentlich intensivpflichtger Patient eben auf der Normalstation, bekommt statt eines Beatmungsgerät nur Sauerstoff über eine Nasensonde. Und wenn es doof läuft stirbt er eben. Die Großmutter unserer Schwiegertochter in spe lag wegen Covid-19 im Frühjahr drei Wochen im Krankenhaus in Tiszjavauros und es sah dort so aus, als würde sie es nicht überleben. Eine Intensivstation hatte sie aber nie von innen gesehen. Zum Glück und für die Angehörigen unerwartet hatte sie aber Covid dann doch überlebt.
PCR-Tests waren in Ungarn in der gesamten Pandemie nie weit verbreitet und FFP-2-Masken ein Fremdwort. Überhaupt werden dort seit dem Frühjahr in nahezu keiner Situation mehr Masken getragen. Das Fußballstadion in Budapest war während der EM das einzige Stadion, das bis auf den allerletzten Platz gefüllt war.
Triathlonwettkämpfe haben 2021 in Ungarn alle stattgefunden und zwar so gut wie immer ohne Hygienekonzept. Ich habe im Sommer und Frühjahr, als unsere inzidenzzahlen noch niedrig waren und trotzdem alle großen Wettkämpfe in den Spätsommer verschoben wurden, gelegentlich sogar etwas neidisch nach Ungarn geblickt, wo das Sport-Leben und Kulturleben längst komplett normalisiert war.
Die Liste könnte ich jetzt noch deutlich weiterführen und z.B. auch erwähnen, dass es in Ungarn zwar 2020 mal einen Lockdown von wenigen Wochen gegeben hatte (viel kürzer als der Herbstlockdown in Deutschland damals), dieser Minilockdown für die Bevölkerung aber viel schlimmer war, als das worüber sich in Deutschland die querdenkenden Lockdowngegner aufregten: in Ungarn gibt es nämiich kein Kurzarbeitergeld und auch keine großzügigen Home-Office-Regelungen: wer dort nicht arbeiten konnte, bekam auch kein Geld. Punkt.
Danke, immer interessant unterschiedliche Berichte und Sichtweisen aus dem gleichen Land zu bekommen.
Zitat:
Zitat von Hafu
Die politische Führung von Orban in der Pandemie ist alleine schon eine Katastrophe. Im Frühjahr kaufte Orban Impfstoffe ohne EMA-Zulassung in China, Indien und Russland ein, die nichtmal ungarische oder wenigstens englische Beipackzettel hatten, so dass die Ärzte, die sie nutzen und ihren Patienten verabreichten sollten, nichtmal sich selbst über die Lager und Verabreichungsmodalitäten vernünftig informieren konnten.
Dafür war dort die Impfkampagne von Anfang an sehr gut organisiert und auf die Risikogruppen gezielt niederschwellig ausgerichtet. Jeder wurde persönlich eingeladen. Und Anfangs hatten sie mit der schnellen Impfkampagne auch ihre Zahlen reduzieren können. Viele waren dort nur zögerlich, weil sie zu Recht befürchteten, nicht mehr nach Westeuropa reisen zu können mit Sinopharm. Gibt es übrigens Angaben zur Wirksamkeit der nicht-EMA-Impfungen über die Zeit? fallen die ähnlich ab, mehr oder weniger?
Zitat:
Zitat von Hafu
Das ungarische Gesundheitswesen ist massiv unterfinanziert. Es gibt viel weniger Elektiv-Operationen (künstliche Hüft- und Kniegelenke, Bypassoperationen, Herzkatheter gibt es dort nur für die Elite in einigen wenigen Budapester Privatkliniken, und wer es sich leisten kann fährt für solche Operationen oft sogar in den Westen).
Das ist sicherlich ein Punkt, das erklärt, warum sie mit weniger Intensivbetten auskommen. Trotzdem hat sich mein Vater, der hier jahrzehntelang gearbeitet hat, lieber in Ungarn operieren lassen, weil er den dortigen Ärzten vertraut. Ich verlasse mich da auf seine medizinische Meinung, was die Qualität des medizinischen Angebots angeht. "sie lassen sie einfach sterben" trifft es auf keinen Fall.
Zitat:
Zitat von Hafu
Eine Intensivstation, die es nicht gibt bzw. die weniger Betten als die Intensivstation eines deutschen Akutkrankenhauses hat, kann dann natürlich auch nicht belegt werden. Und wenn die Intensivstation voll ist, dann bleibt ein eigentlich intensivpflichtger Patient eben auf der Normalstation, bekommt statt eines Beatmungsgerät nur Sauerstoff über eine Nasensonde. Und wenn es doof läuft stirbt er eben.
Angesichts der Diskussion um Nutzen und Schaden der invasiven Beatmung und Ansätzen wie dem Moerser Modell ist es sicher eine spannende Frage, in welchen Fällen die Verlegung auf die Intensivstation tatsächlich hilft oder eher nicht. In Ungarn ist allerdings tatsächlich der Personalmangel etwas, was auf allen Stationen zu Problemen führt. Ein Bekannter hat Covid im Krankenhaus in Ungarn ohne Intensiv überstanden, und starb an einer nosokomialen Infektion wegen mangelnder Hygiene durch überlastetes Personal. Wir wissen nicht, als was er in die Statistik einging.
Zitat:
Zitat von Hafu
PCR-Tests waren in Ungarn in der gesamten Pandemie nie weit verbreitet und FFP-2-Masken ein Fremdwort.
Aus der Gegend, wo meine Verwandten wohnen, bekam ich einen anderen Eindruck. Und zu Masken: in Schweden sind Masken auch ein Fremdwort, ohne daß es in den letzten 15 Monaten besondere Probleme gab. Meine Schwester mußte allerdings monatelang mit FFP2 Maske im Theater sitzen - so unbekannt waren die dort auch nicht.
Zitat:
Zitat von Hafu
Die Liste könnte ich jetzt noch deutlich weiterführen und z.B. auch erwähnen, dass es in Ungarn zwar 2020 mal einen Lockdown von wenigen Wochen gegeben hatte (viel kürzer als der Herbstlockdown in Deutschland damals), dieser Minilockdown für die Bevölkerung aber viel schlimmer war, als das worüber sich in Deutschland die querdenkenden Lockdowngegner aufregten: in Ungarn gibt es nämiich kein Kurzarbeitergeld und auch keine großzügigen Home-Office-Regelungen: wer dort nicht arbeiten konnte, bekam auch kein Geld. Punkt.
Damit sind wir bei den Lebensbedingungen, die ich meinte: zu wenigen geht es gut genug, sich im Home-Office isolieren zu können (abgesehen davon, daß für Home-Office es im ganzen Land monatelang nicht genügend Rechner gab). Darum sind hierzulande Inzidenzen und Sterblichkeit auch nicht in den schönen Neubauvierteln, sondern eher in sozialen Brennpunkten höher.
__________________
“If everything's under control, you're going too slow.” (Mario Andretti)
Damit sind wir bei den Lebensbedingungen, die ich meinte: zu wenigen geht es gut genug, sich im Home-Office isolieren zu können (abgesehen davon, daß für Home-Office es im ganzen Land monatelang nicht genügend Rechner gab). Darum sind hierzulande Inzidenzen und Sterblichkeit auch nicht in den schönen Neubauvierteln, sondern eher in sozialen Brennpunkten höher.
Und wäre, durch eine solche Erkenntnis gestützt, dann nicht eine möglichst flächendeckende Impfung eine geradezu bestürzend einfache Methode?