Guten Morgen!
Gestern bin ich nach dem Schwimmen dieselbe Strecke zur Klinik geradelt wie heute: auf Fußwegen am Gruga-Park vorbei und vorbei an der Straße, in der ich aufgewachsen bin. Dabei ist mir was seltsames passiert:
Die Straße, in der ich aufwuchs, ist eine Sackgasse und hinten ist so eine Art Garagenhof dran. Dahinter standen Bäume, wir nannten es immer "das Wäldchen", aber mit diesem Wäldchen war es vermutlich wie mit vielen Dingen der Kindheit, die einem groß oder lang oder mächtig oder gruselig oder sehr beeindruckend vorkamen, aus Sicht der Erwachsenen aber eben nur eine Ansammlung mehr oder weniger kümmerlicher Bäume war.
Die vielleicht wichtigste Aufgabe von Kindern aber ist es ja, Grenzen auszuloten, den Horizont zu erweitern, sich auszuprobieren, zu gucken, was geht, was geht nicht; was ist gefährlich, was ist OK; was darf ich, wo flippen Mama und Papa aus...
Im Zusammenhang mit dieser Aufgabe spielte das Wäldchen für uns, für mich zumindest eine wichtige Rolle. Es markierte eindeutig das Ende unserer Straße.
Hinter unserem Haus, einem Wohnblock für die Familien von Krupp Angestellten mit drei Eingängen und vier Etagen, in dem wir in der Mitte eine Wohnung im Erdgeschoss bewohnten, war eine große Wiese. Auf der tummelten sich täglich ein ganzer Haufen Kinder und auch ich krabbelte da schon als Kleinkind herum. Meine Mutter konnte mich von der Terasse aus sehen.
Als nächstes erweiterte ich mein Umfeld bis hin zum kleinen Spielplatz am Ende der Wiese und nach vorne auf die Straße, denn ich lernte Rollschuhlaufen und Radfahren, da brauchte ich Asphalt. Weil es eine Sackgasse war und weil damals die Frauen alle Mutter und Hausfrau und fast ausnahmslos ohne Auto waren und das Familienauto früh morgens mit den Vätern die Straße verlassen hatte, war es ruhig und sicher auf der Straße.
Dann - ich war vielleicht sieben Jahre alt oder so - zog es uns aus der Straße hinaus, den älteren Geschwistern hinterher, die längst mit dem Rad duch die umliegenden, ruhigen Straßen kurvten oder über den Zaun des Grugaparks stiegen und in dieser riesigen, wunderbar grünen Oase mitten in der Stadt umherstreunten.
Nach vorne hin war die Begrenzung unserer Straße eine andere Straße, nach hinten hin eben das "Wäldchen". Wir kleinen Girls fanden es immer ein wenig gruselig. Das Wäldchen war vielleicht 20-25 m breit und 100 m lang oder so. Es waren ja eigentlich nur ein paar Bäume zwischen der Rückseite der Garagen und den Fußwegen, von denen einer parallel zum Zaun des Grugaparks lief und einer entlang des Autobahnzubringers zur A 52, die direkt daneben verlief.
Dadurch war es ein wenig laut und abgeschieden dort, vor allem in meiner früheren Kindheit, als die U-Bahn am Grugabad (dem Freibad, wo ich früher schwamm und heute noch schwimme) noch nicht gebaut war.
Wir Kinder, vor allem wir Mädels, sollten das "Wäldchen" und die Wege dort eigentlich meiden, weil man uns dort nicht sehen und auch nicht hören konnte, wenn wir rufen.
Wir selbst reagierten auf diese Vorsicht unserer Eltern mit Gruselgeschichten von einem Mann, der im Wäldchen sein Unwesen treibt und der kleine Kinder in einen großen Sack steckt und mitnimmt und den wir selbst mit eigenen Augen haben weglaufen sehen!
Viele Jahre später wurden diese Gruselgeschichten grauenhafte Realität. Ich war längst Teenager und hatte meinen ersten Freund, Stefan. Ich hatte ein Mofa, mit dem ich meist fuhr, aber wenn Schnee war oder es zu stark regnete, fuhr ich schon mal mit öffentlichen Verkehrsmitteln von Stefan nach Hause. Ausnahmslos immer bestand er darauf, mich bis ganz nach Hause zu bringen, was für ihn bedeutete, dass er insgesamt mindestens 90 Minuten unterwegs war. Ich fand das manchmal nervig und übertrieben, war ich doch selbstbewusst, großkotzig und nicht ängstlich. Bis heute bin ich ihm dankbar für seine Fürsorge, die ich damals nicht recht zu würdigen wusste!
Manchmal wenn ich alleine fuhr, also nicht von Stefan kam, nahm ich sogar die "verbotene" U 11, die U-Bahn, die am Grugabad endete und von deren Endhaltestelle man rascher nach Hause kam als von der anderen U Bahn, aber eben über die Fußwege an der Autobahn und Gruga entlang, durchs Wäldchen und schnell in unsere Straße hinein, mit klopfendem Herzen, weil mir dieser Weg im Dunkeln von meinen Eltern streng verboten war!
Aber obwohl ich selbst schon unschöne Begegnungen auf diesen Wegen hatte (mein Schulweg ging daher) und eine davon auch leicht dramatisch hätte enden können, nahm ich den Weg immer wieder, wenn halt die Bahn schneller kam und dachte: Es wird schon nichts passieren.
Das dachte sich Doreen wahrscheinlich auch, eine Nachbarin von uns, ein paar Häuser weiter. Sie war ca. drei Jahre älter als ich, 18 oder 19, war kurz vor ihrem Abitur. Sie kam eines nachts nicht nach Hause, als sie von ihrem Freund nach Hause fahren wollte und in den frühen Morgenstunden machten sich die Eltern verrückt vor Sorge auf die Suche nach ihrer Tochter. Der Vater fand Doreen sehr schnell, denn er ging den Weg nach, den sie hätte nehmen müssen, in umgekehrter Reihenfolge also. Er fand Doreen vergewaltigt und ermordet in dem Wäldchen hinter den Garagen, an die schmalen Stämme der kümmerlichen Bäumchen gefesselt. Ich war 17, heute bin ich 43 und jetzt, wo ich daran denke, schießen mir Tränen in die Augen.
Erst Jahre später fand man den Täter, als er eine andere Frau in ihrer Wohnung zu vergewaltigen versuchte, die aber fliehen konnte. In der Wohnung des Mannes fand die Polizei Fotos. Er hat, ich glaube, sieben Frauen getötet und er hat sie alle vorher sorgfältig beobachtet. Vermutlich hätte Doreen keine Chance gehabt, auch wenn ihr Freund sie, wie meiner es zum Glück immer tat, begleitet hätte, denn der Mann hat die Frauen nicht nur im Dunklen überfallen oder in einsamen Waldstücken.
Es hat die ganze Familie zerstört. Der Vater nahm sich wenige Jahre danach das Leben, die ältere Schwester war drogenabhängig und die Mutter lebte extrem zurück gezogen in Trauer.
Ich hätte also gestern Morgen vielleicht froh sein sollen, dass dieses "Wäldchen" weg ist, mit dem so schlimme Erinnerungen verbunden sind. Ich weiß nicht, ob es der Sturm der letzten Woche war, denn irgendwie sieht es so aus, als hätten sie die Bäume schon vorher abgeholzt.
Aber irgendwie war ich nicht froh, vielmehr war es, als hätten sie ein Stück Kindheit ausradiert und durch die entstandene Freifläche fällt erst recht auf, wie kümmerlich das Stückchen "Wald" war. Es war ein trauriger Anblick und eine weitere Erinnerung an diese paar Quadratmeter ungepflegten Grüns kamen mir in den Sinn:
Kennt ihr "Unendlichkeitsträume"? Ich habe und hatte ja zum Glück nie viele Alpträume, aber als Kind hatte ich manchmal "Unendlichkeitsträume", wie ich sie nenne.
Einer davon spielte in dem Wäldchen: Ich bin in dem Wäldchen und es ist Herbst und es ist meine Aufgabe, alles Laub vom Boden zusammenzukehren, damit das blanke Erdreich zu sehen ist. Ich habe kein Werkzeug, sondern muss es mit Stöcken machen, so wie ich es als Kind wirklich tat, wenn ich tagsüber dort war, im Sonnenschein, wenn es uns wenn schon nicht erlaubt war, uns dort aufzuahlten, zumindest nicht streng verboten. Im Traum muss ich das ganze Wäldchen laubfrei machen und irgendwann wird mir klar: Das schaffe ich nie! Es fällt immer neues Laub, wenn ich an einem Ende ankommen würde, wäre am Anfang wieder alles voller Laub. Weil ich erst aufhören darf, wenn ich fertig bin, werde ich niemals aufhören können, werde immerzu Laub zusammen kratzen... Wenn diese Erkenntnis da ist, wache ich auf.
Ein anderer Unendlichkeitstraum: Ich spiele mit meinem älteren Bruder Christian (der, den ich früh verlor) im Zimmer von meinem anderen Bruder und mir. Hinter der Türe ist ein Schrank, da sind Fächer drin, in denen wir Spiele aufbewahren. Christian nimmt aus dem untersten Fach das Lego heraus und die Rückwand und sagt: Kriech du hinein in den Gang hinter dem Schrank, du bist klein genug, ich bin zu groß! Ich krieche hinein in den engen Gang, immer weiter und weiter. Der Gang nimmt kein Ende. Er ist zu eng, als dass ich mich umdrehen könnte, rückwärts kriechen geht irgendwie auch nicht. Ich weiß: Der Gang ist ohne Ende und weil ich nicht umkehren kann, werde ich für immer diesen Gang entlang kriechen müssen und ich frage mich, ob Christian es wusste, als er mich hinein schickte... Dann wache ich auf.
Es gibt noch mehr Unendlichkeitsträume und es gibt noch mehr Erinnerungen, die durch das Abholzen oder das Umstürzen der Bäume im "Wäldchen" wach gerufen wurden, aber es ist so schon viel zu lang geworden.
Immerhin hat's nix mit Schwimmzeiten zu tun, es besteht also die Chance, dass es dem geneigten Leser gefällt, der ja hier nichts von meinen überaus wichtigen Trainingsergebnissen lesen will...
Herzliche Grüße
J.