Szenekenner
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Update Sucht
40 Jahre Suchthilfe Direkt, die früher Krisenhilfe hieß und die außergewöhnlich gute Drogenberatungsstelle hier in Essen ist - Heute fand anlässlich des 40 jährigen Bestehens ein Fachtag statt. Für die Interessierten hier ein kurzer Bericht über einen fulminanten Vortrag von Prof. Dr. Michael Musalek, dem ärztlichen Direktor des Anton Proksch Instituts in Wien:
Das Thema des Vortrages war "Wie viel 'Schönes' braucht die Suchtarbeit?" und Herr Musalek hat mitreißend und unglaublich unterhaltsam erzählt, in schönstem Wiener Dialekt. Er sieht leicht schräg aus und ich konnte spontan mit dem Titel des Vortrages nicht so viel anfangen, aber schon nach wenigen Sätzen hatte er mich, wie auch den Rest der Anwesenden, gefangen genommen. Wir haben sehr viel gelacht und viel gelernt. Herrlich! So müssen Fortbildungen sein und wieder einmal war ich dankbar für meine großartige Arbeit, die mir immer wieder neue Sichtweisen eröffnet und mir neue Impulse gibt.
Ich versuche eine Zusammenfassung der wichtigsten Punkte, die mir im Gedächtnis geblieben sind:
-Das Abstinenz-Paradigma fordert vom suchtkranken Menschen, dass er auf das wichtigste in seinem Leben verzichtet, auf das Suchtmittel oder das süchtige Verhalten. Ein Leben lang. Herr Musalek forderte uns auf, einmal darüber nachzudenken, auf das für uns nur Fünftwichtigste für den Rest unseres Lebens zu verzichten...
- Es gibt keine Menschen mit NUR schwachem oder NUR starkem Willen. Es sind vielmehr Phasen, in denen die Motivation hoch ist und solche, in denen sie geringer ausfällt.
- Eine hohe Motivation haben Menschen, wenn das Ziel eine hohe Attraktivität hat und wenn dieses Ziel für möglich gehalten wird. Eine niedrige Motivation haben Menschen, wenn die Attraktivität des Ziels fehlt und es für unmöglich gehalten wird.
- Abstinenz als alleiniges Ziel ist weder attraktiv noch wird es vom Suchtkranken als erreichbar angesehen.
- Die Frage ist, wie man die Suchtarbeit also attraktiv machen kann?
- Ein neues Ziel muss formuliert werden, ein attraktives Ziel. Abstinenz ist dann nicht mehr DAS Ziel, sondern EIN Ziel, ist vielmehr ein Teilziel zur Erreichbarkeit eines attraktiven Ziels.
- Dieses attraktive Ziel lautet: Ein autonomes und freudvolles Leben führen.
- In der Arbeit müssen wir weg von der Defizit -Orientierung hin zur Ressourcen-Orientierung kommen.
- Neben den bekannten Ressourcen, die zur Überwindung der Suchterkrankung nötig sind und die bereits in anderen, ressourcen-orientierten Ansätzen beschrieben werden, spricht Musalek von der "fiktionalen Ressource". Diese beschreibt er als die Ressource des Möglichen, als die Fähigkeit von Betroffenen, seine eigenen, positiven Möglichkeiten zu sehen.
- Weiter führt er eine Ästhetische Ressource ein, eine Ressource des Schönen und sprach vom Wert des Schönen, dass Schönheit nicht von Funktionalität getrennt werden kann, dass oftmals die funktionalsten Dinge auch eine große Schönheit bergen. Er sprach von der Kraft, die man aus schönen Dingen und schönen Erlebnissen ziehen kann, was aber voraus setzt, dass man die Fähigkeit hat, Schönheit wahr zu nehmen, dass man eine Achtsamkeit gegenüber der Schönheit hat.
- Dann führte er das Orpheus Modell ein, ein neues, im Anton Proksch Institut entwickeltes modulares Behandlungsmodell, das Abstinenz als Basis, nicht als Ziel hat.
- Es heißt Orpheus, weil dieser wie Odysseus an den verlockenden, extrem anziehenden Sirenen und ihrem Gesang vorbei kam, die jeden ins Verderben zogen, der ihnen zu nahe kam. Während Odysseus es schaffte, indem er sich an den Mast seines Schiffes fesseln ließ, also durch Zwangsmaßnahmen an den Sirenen vorbei schrammte, nahm Orpheus seine Harfe und spielte Musik, die schöner war als der Gesang der Sirenen, die sich darauf hin ins Meer stürzten. Orpheus nutzte die Kraft des Schönen und Ästhetischen und überwand die Sirenen, die für Musalek die Drogen symbolisieren. Auch sie sind extrem verlockend und attraktiv, dabei aber gefährlich für jeden, der in ihren Bann gerät.
- Abstinenz dient im Orpheus Programm als Voraussetzung für ein freudvolles Leben.
- Das Programm bietet verschiede Module, die der Patient zusammen mit seinem Therapeuten auswählt. Es geht z.B. um Dinge wie Sensibilität, Körperwahrnehmung, Achtsamkeit, Genussintensivierung.
- Es geht darum, Möglichkeiten zu schaffen, das Mögliche möglich zu machen.
- Es geht darum, dass Patienten ihr Leben so gestalten, dass sie es bejahen können, dass es schön ist. Das nennt Musalek den existentiellen Imperativ.
- Therapie soll keine Erziehung sein, sondern Unterstützung bei den ersten Schritten. Dann muss aber eine Stück freie Strecke folgen, damit Freiraum für Entfaltung entsteht, immer aber mit einem Menschen, der den Patienten auffängt, wenn es nicht so gut läuft.
So, das waren einige der Dinge, die bei mir hängen geblieben sind. All das hat Herr Musalek dermaßen unterhaltsam erzählt, wir haben viel gelacht und die Zeit ist im Fluge vergangen.
Danach hatte mein Chef keine Chance, sein - durchaus nicht uninteressanter - Vortrag über Geschichte, Hintergründe, Erfolge und Grenzen der Substitutionsbehandlung Opiatabhängiger MUSSTE dagegen mau ausfallen.
Ganz zum Schluss kam noch ein sehr interessanter und auch recht unterhaltsamer Vortrag eines Soziologen über Lebenswelten, dem ich auch vieles abgewinnen konnte.
Herrn Musalek aber habe ich nach dem Vortrag sofort angequatscht, ob die Möglichkeit besteht, in seiner Klinik zu hospitieren. Was glaubt ihr? Ich bin herzlich eingeladen, im Herbst 2012 nach Wien zu kommen. Top!
So, es ist sehr lang geworden. Vielleicht liest es ja trotzdem jemand, der sich für Sucht und die Suchtkrankenhilfe interessiert.
Schönen Abend, gute Nacht!
Judith.
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