Hallo,
ich habe das hier besprochene Thema zwar verspätet, aber wie angekündigt mal mit den Patienten in der gestrigen Gesprächsgruppe diskutiert. Sie waren sehr interessiert, auch an den Aussagen, die ich aus dem Thread hier heraus kopiert hatte, und haben teilweise engagiert mit diskutiert.
Anwesend waren 11 Patienten, davon 3 Frauen. Alle sind heroinabhängig. Manche von ihnen konsumieren schon seit ihrer Kindheit, bzw. sehr frühen Jugend Suchtmittel. Einige von ihnen hatten auch schon mal längere Abstinenzzeiten, einer war 7 Jahre clean, einer 10 Jahre, viele andere schon mal 6 Monate bis 3 Jahre.
Auf die Frage, wer sich neben seiner Opiatabhängigkeit auch als Alkoholiker/in bezeichnen würde, hoben 8 von ihnen die Hand. Drei hoben die Hand auf die Frage, wer von ihnen denn schon vor der Heroinabhängigkeit alkoholabhängig war. Keiner der Patienten war der Meinung, dass er mit Heroin angefangen hätte, wenn er nicht zuvor schon andere Drogen genommen hätte. Die allermeisten von ihnen haben mit Nikotin angefangen, dann folgte in der Regel rasch der erste Alkoholkonsum. Ein, zwei Patienten haben auch Cannabis als zweites Suchtmittel konsumiert und erst später Alkohol. Alle Patienten bezeichnen Alkohol als Einstiegsdrogen Nr. 1 für den späteren Konsum von anderen, auch harten Suchtmitteln. 9 von 11 Patienten benannten Alkohol als die gefährlichste Droge. Dass das so viele von ihnen so sehen, hat mich erstaunt, ich hätte gedacht, dass sie Heroin als gefährlicher betrachten. Begründet haben sie die höhere Gefährlichkeit von Alkohol gegenüber Heroin mit der leichteren Verfügbarkeit und dem gefährlicheren Entzug. Auf die Frage, ob ein Alkoholverbot sinnvoll wäre, hatten sie eigentlich keine Antwort, meinten aber, dass das tendenziell nichts brächte und führten ihre eigene Sucht von einem illegalen Suchtmittel und das Versagen der Prohibition damals in den USA an.
Wir sprachen dann über das Gegenteil von Prohibition, nämlich über Freigabemodelle für harte, illegale Drogen.
Als Vorteile einer Legalisierung von Heroin nannten sie:
- Keine Notwendigkeit mehr zur Beschaffungskriminalität
- Keine Infektionen mehr, weil keine Spritzen mehr geteilt würden und die Drogen rein wäre
- Keine unerwünschten Nebenwirkungen mehr durch Streckmittel
- Entkriminalisierung ihrer Erkrankung
- womöglich Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit
- weniger Kosten für die Gesellschaft durch Wegfallen der Beschaffungskriminalität und Abmilderung der gesundheitlichen Folgen des Heroinkonsums
Nachteile fielen ihnen nur wenige ein:
- mehr Abhängige, weil weniger Abschreckung? Hier diskutierten sie länger und kamen schnell mehrheitlich zu der Meinung, dass eine Abgabe nicht frei erfolgen darf wie bei den heute legalen Suchtmitteln, sondern nur unter ärztlicher Aufsicht an Menschen, die schon heroinabhängig sind. (Länger sprachen wir an dieser Stelle über die bestehenden Heroinvergabe-Modelle in mehreren deutschen Städten und die dort herrschende Praxis, dass Heroinvergabe an diverse Bedingungen geknüpft ist: Langjährige Heroinabhängigkeit, mehrere Entwöhnungsbehandlungen (= abstinenzorientierte Rehamaßnahmen), gescheiterte Versuche von Substitution mit Methadon, Polamidon oder Subutex und einiges mehr. Das bedeutet, dass Menschen erst bei fortgeschrittener Drogenkarriere eventuell die Möglichkeit haben, in die Heroinvergabe zu kommen. Die Patienten kritisierten, dass dann der soziale, berufliche und gesundheitliche Verfall in der Regel schon weit fortgeschritten ist und dass das die Erreichung von Zielen wie Gesundheitserhaltung, Wiedereingliederung in die Gesellschaft und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit verhindert. Sie sprachen sich eher für eine schnellere Möglichkeit der Aufnahme in ein solches Programm aus.)
Auf weitere mögliche Nachteile einer Originalstoffvergabe sind wir gemeinsam gekommen:
- Kürzere Halbwertzeit von Heroin gegenüber Methadon und damit die Notwendigkeit von teilweise mehrfachem Konsum am Tag. Damit verbunden hoher zeitlicher Aufwand für die Betroffenen und Verhinderung von Arbeitsaufnahme und hoher finanzieller Aufwand für die Gesellschaft.
- Die Heroinabgabe ändert nichts an der Sucht. Das Suchtproblem bleibt weiter unvermindert bestehen.
- Geringe Motivation zur Erlangung von Abstinenz anstatt dauerhafter Heroinvergabe?
- Wie bei Substitutionsmitteln auch Gefahr der Suchtverlagerung, weil zumindest bei ärztlich kontrollierter Heroinvergabe nur Mengen konsumiert werden dürfen, die den Konsumenten entzugsfrei aber nicht "dicht" machen.
Alle Patienten waren , zumindest tendenziell, für eine kontrollierte Abgabe von Heroin.
Mir selbst ist während der Diskussion noch ein Grund gegen die flächendeckende Abgabe von Heroin eingefallen: Die Substitution mit Methadon ist in vielen Punkten der Heroinvergabe überlegen: es ist billiger, weniger aufwendig, Methadon hat eine wesentlich längere Halbwertzeit, es kann oral genommen werden. Allerdings erzeugt es weniger die beim Heroin geschätzte Wirkung des "dicht seins" und verführt deshalb womöglich mehr zum Beikonsum von anderen Suchtmitteln, als man das bei einer Vergabe des Originalstoffs hätte. Das bestätigte mir übrigens auch der Kollege in Bonn, wo ich mal die Heroinvergabe-Ambulanz besucht habe, um mich darüber zu informieren.
Ich werde jedenfalls wie angekündigt in nächster Zeit noch mal was zu dem Thema lesen, um meine Haltung zu diesem Thema zu überprüfen. Wenn ich dabei auf Spannendes/Interessantes stoße, werde ich es hier rein schreiben.
Zitat:
Zitat von Lui
Eine Person kann jahrelang Heroin nehmen und hört einfach problemlos auf ohne durch Höllenqualen des Entzugs zu gehen.
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Übrigens: Diese Aussage haben alle Patienten als nicht richtig bewertet. Zwar gebe es den einen oder anderen Konsumenten, der es schaffe, zu Hause "kalt" (also nicht Medikament gestützt) zu entgiften und dann ohne spezielle Behandlung clean zu bleiben, aber das sei die Ausnahme. Ohne Entzug gehe es aber nicht. Das deckt sich mit meiner Auffassung. Wie soll man auch ohne Entzug mit einer Drogen aufhören, die schwer körperlich abhängig macht. Geht ja bei Alkohol genauso wenig. Möglich wäre das natürlich bei einem Konsum, der so gering ist, dass keine körperliche Abhängigkeit entsteht. Das sind aber sicherlich die absoluten Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Es gibt zwar Heroinkonsumenten, die länger die Kontrolle behalten als die Mehrheit, aber in der Regel gelingt es Menschen nicht, diese stark wirksame Droge dauerhaft kontrolliert zu konsumieren, so dass sich dann auch keine körperliche Abhängigkeit einstellt.
Schöne Grüße von der Drogenfront: Judith.