Hab das hier in nem anderen Forum/blog entdeckt...sehr interessant!
Hier:
Moin,
ich finde deinen Artikel recht spannend, ich habe aber dazu einige Ergänzungen und Anmerkungen:
- Insgesamt gibt es aus der frühen Evolutionsgeschichte nur eine winzige Handvoll von Funden, die oft mehrere hunderttausend Jahre auseinander liegen. Erst in den letzten 30000 Jahren wird die Funddichte etwas höher.
- Folglich lässt sich aus der Zeit der Menschwerdung kaum eine belastbare Aussage über die Lebenserwartung oder genaue Ernährungsweise treffen. Zwar lässt sich einiges aus Fossilien ablesen, grobe Altersschätzungen sowie Abschätzungen des Ernährungszustandes oder zumindest die Häufigkeit schwerer Hungerperioden aber auch verheilte Knochenbrüche können bei gutem Zustand und ausreichend vielen Funden getroffen werden. Um statistisch belastbar zu sein (Abschätzungen der Lebenserwartung) sind jedoch schon deutlich mehr Funde nötig.
- Eine regelmäßige Lebenserwartung von 25 Jahren ist allerdings recht fraglich, da diese Spanne kaum ausreicht, um Kinder großzuziehen. Die durchschnittliche Lebenserwartung berechnet sich aber immer unter Einbezug der (mutmaßlich hohen) Kindersterblichkeit: Sterben 50% der Kinder vor dem ersten Lebensjahr und werden die restlichen 50% 50 Jahre alt, landen wir auch bei einer Lebenserwartung von 25 Jahren und dennoch wird ein großer Teil der Leute wesentlich älter. Inwieweit es belastbare Daten aus den letzten 20-30000 Jahren gibt, weiß ich allerdings nicht. Angeblich soll jedoch die Lebenserwartung im Zuge der Sesshaftwerdung zunächst abgenommen haben.
Beides sagt jedoch wenig bis nichts über die Vor- oder Nachteile einer bestimmten Diät aus: Risiken wie Unfälle, Krankheiten, kriegerische Auseinandersetzungen, Jagd- oder Ernteausfälle dürften einen bedeutenden Einfluss auf die Lebenserwartung gehabt haben – die gesündeste Ernährung nutzt gar nichts, wenn die Ernte verdorrt, das Dorf weggeschwemmt wird oder ein halbes Dutzend junge kräftige Menschen bei einem Unfall ums Leben kommen und der Rest dann im Winter verhungert.
- Die Ernährung prähistorischer Jäger- und Sammlergesellschaften ist noch spekulativer als die durchschnittliche Lebenserwartung. Erstens sprechen wir hier über einen Zeitraum von etwa 2 Millionen Jahren, eine Vielfalt von Klimazonen und Klimabedingungen und zweitens hinterlässt die Ernährung noch geringere Spuren als vieles andere. Fernwaffen (Speerspitzen, Pfeile etc.) tauchen jedenfalls erst ausgesprochen spät in der Menschheitsgeschichte auf. Alle nahen Verwandten des Menschen leben fast oder überwiegend vegetarisch (oder vegan). Was letztendlich der Motor der Menschwerdung war ist mitnichten geklärt. Es gibt einige Argumente für die Theorie, dass tierische Proteine hier eine Rolle gespielt haben. Diese können jedoch ebensogut aus Insekten, Vogeleiern, Fischen und Kleintieren gekommen sein, denn diese sind leicht verfügbar. Zumindest zwei der vier genannten kommen seltsamerweise in der Paleodiät nicht vor, ebensowenig wie Innereien, Knochenmark, etc..
Wenn schon ursprünglich, dann bitte Maden im Wald sammeln und nicht Muskelfleisch im Supermarkt kaufen!
- Es gibt keine Belege dafür, dass Grassamen (Getreide), stärkehaltige Nahrungsmittel oder Hülsenfrüchte keinerlei Rolle in der prähistorischen Ernährung gespielt haben. Bereits vor ca. 30000 Jahren wurden wohl bereits Rohrkolbensamen vermahlen und zu einer Art Brot verbacken. Auch entstammen alle unsere Kulturpflanzen ja Wildformen, die sicher schon vor der Zucht konsumiert wurden (sonst hätte wohl kaum jemand das Zeug angebaut). Der Anteil dieser Lebensmittel mag allerdings deutlich geringer gewesen sein als heute.
- Die Berufung auf angeblich ursprünglich lebende Jäger-und-Sammler-Gesellschaften ist verfehlt. Weltweit betrachtet schwankt in diesen Gesellschaften der Anteil tierischer Nahrung von knapp über Null (einige Jäger- und Sammlergesellschaften in warmen Regionen ernähren sich weitgehend pflanzlich) bis fast hundert Prozent (Inuit). Alle genannten essen gegebenenfalls alles von einem Tier und oft auch so ziemlich alle Tiere (wenn es keine religiösen Vorschriften dagegen gibt). Gemeinsam ist diesen Gesellschaften das weitgehende Fehlen von Zivilisationskrankheiten – vielleicht ist das verbindende Element aber eher die Tatsache, dass sich alle diese Leute wesentlich mehr bewegen als die durchschnittlichen Bewohner_innen der Industriestaaten und weniger Zucker und stark verarbeitete Nahrungsmittel konsumieren. Folgern ließe sich daraus: Die genaue Ernährung ist möglicherweise fast egal, wenn alle notwendigen Stoffe aufgenommen werden und ausreichend viel Bewegung dazu kommt. Außerdem sind Menschen offenkundig extrem anpassungsfähig was ihre Ernährung angeht – die fehlende Spezialisierung ermöglicht das Überleben in fast allen Klimazonen. Insofern mag eine vegane oder vegetarische Ernährung nicht der “Urnahrung” der Menschwerdung entsprechen, das heißt aber noch lange nicht, dass sie deshalb ungesund ist – oder unter den in westlichen Staaten üblichen Lebensbedingungen nicht sogar gesünder, als viele andere Ernährungsformen.
- Nur angeblich ursprünglich sind diese Jäger- und Sammlergesellschaften deshalb, weil verkannt wird, dass sie eine ebenso lange Kulturgeschichte durchlaufen haben wie die BewohnerInnen westlicher Industriestaaten. Veränderungen der Lebensweise sind durchaus häufig: Die !Kung-Buschleute haben offenbar noch vor einigen hundert Jahren als sesshafte Bauern oder zumindest in wesentlich fruchtbareren Gegenden gelebt, bis sie in die Kalahari verdrängt wurden. Das Symbol der “Indianer” schlechthin für uns, die Prärieindianer, sind eine Gesellschaftsform, die nur wenige hundert Jahre in dieser Form existierte – zwischen der Inbesitznahme der Pferde durch die entsprechenden Gruppen bis zur Zerstörung ihrer Lebensweise durch die weißen Siedler. Davor lebten diese Gesellschaften als halbsesshafte Jäger-Sammler-Ackerbauern am Rande der Prärie.
Der Verweis auf angeblich natürlich lebenden “Völker” ist leider oft nur wenig mehr als der gute alte Kolonialrassismus — heute heißt es halt “ursprünglich” und nicht mehr “primitiv”
- Im Gegensatz zu den Behauptungen hat in den letzten 30000 durchaus einiges an genetischer Anpassung auch an unsere Ernährung statt gefunden (Laktoseabbau, Entgiftung von pflanzlichen Abwehrstoffen), einiges haben Menschen durch Bearbeitung (Kochen, Backen, Vergären/ Fermentieren) gelöst. Dass nicht alle Menschen diese Nahrungsmittel vertragen, heißt ebenfalls nicht, dass sie deshalb ungesund sind (dafür braucht es mehr und andere Argumente – gegen reinen Zucker ist niemand allergisch, gesund ist trotzdem was anderes).
Fazit: Die Paleodiät beruht eher auf einer projizierten Steinzeitphantasie als auf harten Fakten. Ihre Anhänger werden sich davon trotzdem nur schwer überzeugen lassen. Die Frage, woher sie so genau wissen, was unsere fernen VorfahrInnen gegessen haben, darf ihnen aber durchaus mal gestellt werden.
Ich stimme dir zu, dass diese Ernährungsform schon faktisch nicht einmal für einen Großteil der Menschheit funktionieren kann. Und ja, heute können wir in den westlichen Ländern uns tatsächlich für die eine oder andere Ernährungsform entscheiden (allerdings haben weltweit nicht alle Menschen diese Wahl) — und eben auch dagegen, Tiere zu essen (oder das zumindest drastisch einzuschränken). Es gibt jedenfalls einiges, was dafür spricht und genug Belege dafür, dass ein gesundes veganes oder tierproduktarmes Leben machbar ist.
PS: Als Einstieg zum Thema “was wissen wir eigentlich über die Menschwerdung” sind die Texte von Sigrid Schmitz interesant, z.B.: “Jägerinnen und Sammler. Evolutionsgeschichten zur Menschwerdung.”
In: Ebeling, Smilla; Schmitz Sigrid (Hg.):
“Geschlechterforschung und Naturwissenschaften. Einführung in ein komplexes Wechselspiel.”
Quelle:
http://www.bevegt.de/paleo/