Mille Alba – Ein verlängertes Wochenende in Schottland
Leider sind die deutschen Randonneure aus unerfindlichen Gründen forumstechnisch kaum vernetzt, weshalb ich auf der Suche nach Infos zu diversen Langstreckenfahrten im britischen YACF-Forum (yet another cycling forum) landete. Dort stieß ich auf einen Thread über ein 1000 km Brevet in Schottland, an dem ich unbedingt teilnehmen musste.
Vorneweg die Eckdaten:
Startgeld inkl. 4x Übernachtung und Vollpension: 120 Euro. Die dauernden Vergleiche zu Ironman und Challenge sind zwar müßig, aber ich deute sie natürlich trotzdem gerne an.
Anders als bei den meisten Brevets dieser Länge gab es eine Art Basislager in einem Pfadfinderheim, von dem aus die auf 4 Etappen aufgeteilte Gesamttour jeweils starteten. Wer zügig fährt, kann bereits am Abend gegen 22 Uhr zurück sein und bis zum nächsten Morgen „normal“ in einem der 8-Bett-Zimmer schlafen, um dann die nächste Etappe ausgeruht in Angriff zu nehmen.
Hier eine Übersicht der Teilstrecken:
http://ridewithgps.com/routes/821123 - 4300 hm, 360 km
http://ridewithgps.com/routes/821143 - 4000 hm, 325 km
http://ridewithgps.com/routes/821158 - 3600 hm, 265 km
http://ridewithgps.com/routes/821163 - 800 hm, 70 km
Macht gesamt runde 12700 Höhenmeter auf 1020 km.
Bereits im Vorfeld war der Kontakt mit dem Veranstalter hervorragend. Alle Fragen wurden entweder im Forum oder direkt per Mail beantwortet. Organisationschef Graeme bot sogar an, mich vom Flughafen abzuholen. Dies lehnte ich ab, da es einen Flughafenbus gab und anschließend nur noch 5 km per Taxi zu fahren waren. Alleine die Geste beeindruckte mich schon, denn wenn 80 Teilnehmer fast gleichzeitig in einem solchen Lager aufschlagen, gibt es jede Menge zu tun. Graeme berichtete mir, dass insgesamt 80 Helfer mitmachen, sodass auf jeden Teilnehmer ein Helfer kam, und das war jederzeit zu spüren. Man wurde königlich betreut, was mit einer tollen Pastaparty am Donnerstag Abend seinen Anfang nahm.
Weniger erfreulich präsentierte sich leider das Wetter und noch katastrophaler der Wetterbericht: es sollte an den drei Tagen komplett durchregnen! Seit Tagen hatte ich mir überlegt, eventuell zu kneifen, aber ich habe das dann u.a. wegen der tollen Vorarbeit des Veranstalters verworfen. Der Entschluss stand fest: egal ob es schifft oder scheißt, ich werde fahren.
Nach einem ausgiebigen Frühstück am Freitag Morgen dann pünktlich um 7 Uhr der Start zu ersten Teilstrecke. In strömendem Regen und bei 12 Grad. Örtliche Überflutungen waren angesagt und immer noch Dauerregen. Jetzt galt es erst einmal, sich auf den Linksverkehr einzustellen, was viel einfacher verlief als von mir erwartet. Dann schloss ich mich der ersten Gruppe an. Diese fuhr zwar bergauf einen Tick zu schnell für mich, aber in der Ebene konnte ich gut mitfahren und 360 km kann man mit dieser Konstellation gerade so schaffen.
Die Straßen in Schottland muss man leider als katastrophal bezeichnen. Nur äußerst selten gab es wirklich glatten Asphalt, die meisten Strecken waren extrem rau. Der Straßenrand komplett zerfranst, sodass man sich besser in der Straßenmitte einsortiert. Schon bald kamen die ersten überfluteten Stellen, und todesmutig bretterte der erste Kollege durch die letztendlich nur 10 cm tiefe, aber immerhin 50 m lange Stelle hindurch. Ich hätte mich das nicht getraut. Meine fetten WetWalker-Überschuhe wurden jetzt zum wichtigsten Accessoire; nicht gegen die Nässe, denn die dringt ohnehin überall ein, sondern gegen die frischen Temperaturen von ca. 13 Grad.
Unsere 4er-Gruppe näherte sich Dundee und kurz zuvor hörte der Regen auf. Ich war zunächst noch skeptisch, aber es war tatsächlich für die restlichen 300 km Ruhe. Nach 110 km dann die erste bemannte Kontrollstation mit Verpflegung vom feinsten. Es wurden diverse Suppen angeboten und Ofenkartoffeln. Zum Nachtisch Reispudding und als Wegzehrung Bananen und Energieriegel so viel man wollte. Ich staunte nicht schlecht, dass das Essen am Tisch serviert wurde. Solchen Luxus kannte ich aus Deutschland noch nicht, obwohl die Bewirtung in der hiesigen Hochburg Osterdorf wahrlich nicht schlecht ist.
Nach dieser halbstündigen Mittagsrast ging es weiter ins schottische Hochland zum größten Skizentrum des Landes. Zuerst erwarteten uns äußerst steile (20%) Rampen, die dort teilweise etwas kryptisch mit 1:5 oder 1:6 ausgeschildert sind, und die höchste Passstraße Großbritanniens mit 680 Meter über NN. Das hört sich für Alpen erfahrene Radler ziemlich lächerlich an, aber ich kann versichern, dass die Kombination aus Gegenwind, schlechtem Straßenbelag und dauerndem Auf und Ab auch solche vermeintlich einfachen Anstiege zu einer schwierigen Angelegenheit machten.
Bergauf musste ich die zwei schnellsten Fahrer ziehen lassen, aber freundlicherweise warteten sie im nächsten Dorf bei einem Supermarkt, sodass wir die Fahrt gemeinsam fortsetzen konnten. Auch beim zweiten längeren Anstieg das gleiche Bild. Dieses Mal warteten sie oben nicht, sondern fuhren weiter, aber da sich jetzt eine Hügellandschaft mit etlichen Buckeln von 20 Höhenmetern anschloss - mein Lieblingsterrain - konnte ich wieder aufschließen und wir setzten die Fahrt gemeinsam fort bis ins Ziel, wo wir um 21.40 Uhr ankamen. Das Essen war noch nicht fertig, also können wir nicht so langsam gewesen sein.
Im Basislager waren dann wieder 8-10 Helfer beschäftigt, für das leibliche Wohl der Randonneure zu sorgen. Es gab zwei Suppen, drei Hauptgerichte und diverse Desserts, sodass für jeden Geschmack etwas dabei war.
Leider konnte ich kaum etwas zu mir nehmen, und noch nicht einmal das leckere Bier des englischen Kollegen genießen, da ich mich ganz offensichtlich „etwas“ übernommen hatte mit diesem Tempo. Die beiden Briten teilten mir mit, dass sie am nächsten Morgen gegen 5.30 Uhr losfahren, und dass ich mich doch bitte anschließen sollte, aber erstens hatte ich keine Lust, so früh aufzustehen und zweitens hätte ich dieses Tempo an Tag 2 auf keinen Fall mehr mitfahren können, nicht zuletzt auch deshalb, weil für diesen Tag neben Dauerregen auch starker Wind mit orkanartigen Böen angesagt war.
Ich startete also am nächsten Tag, wieder nach einem sehr umfassenden Frühstück, mit einem ziemlich betulichen Zeitgenossen. Die ersten 40 km waren relativ nervtötend, denn es ging durch die Vororte von Edinburgh Richtung Süden. Und es regnete NICHT, den ganzen Tag nicht!
Nach 60 km hatte ich mich soweit erholt, dass ich das Tempo erhöhen konnte und mich einem anderen Fahrer anschloss, der – wie sich bald herausstellte – sowohl im Flachen wie auch bergauf ziemlich genau mein Tempo fuhr, was so gut wie nie vorkommt. Mit ihm fuhr ich dann auch bis zum Schluss.
Ich hatte keine Ahnung in welche Richtung die Tour führte, gerade führt oder führen wird (war auch besser so), aber bei einem Anstieg mit diversen Kehren wurde schon deutlich, dass einem heute das Fahren bei Gegenwind alles abverlangen würde. Der Schnitt stand nach 80 km bei ca. 19 km/h, was nicht unbedingt motivierend war. Dann aber folgte ein langes welliges Stück mit starkem Rückenwind, was den Schnitt in der Folge auf 23 km/h ansteigen ließ.
Bei der ersten größeren Rast erfuhr ich dann, dass jetzt ca. 150 km Gegenwind zu erwarten wären. Auch dies ein sehr motivierender Gedanke, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Strecke wie üblich mit Dutzenden von Hügeln garniert war. Oftmals musste selbst in der Ebene das kleine Blatt verwendet werden und es wurde mit Ach und Krach eine Geschwindigkeit von 15 km/h erreicht. Selbst steilere Abfahrten konnte man nicht herunterrollen, sondern musste kräftig treten, um vorwärts zu kommen.
Auf etwa halber Strecke dieser Gegenwindpassage dann die Verpflegungsstation des Tages, die nochmals deutlich besser war als die wahrlich nicht schlechte des ersten Tages: diesmal gab es Suppe, Pizza, Reispudding, belegte Brote, Cola zum Mitnehmen, Kuchen,
Trifle u.v.m. Ich verdrückte eine komplette Pizza, die allerdings einiges größer war als ein typisches Dr.Oetker-Exemplar und auch weit großzügiger belegt.
So gestärkt ging es in die letzten 150 km, die noch eine Prüfung der besonderen Art aufwies, nämlich den Anstieg zu einem Stausee irgendwo im schottischen Hochland. Der Weg war max. 2,5 m breit und zog sich über 15 km nach oben und wieder runter, wieder nach oben und wieder runter, und am Schluss nur noch steil bergauf. Nur eines blieb stets erhalten: der böige Wind von vorne, der mit mindestens 40 km/h blies. Da die Straße zwischen zwei recht eng aneinander liegenden Bergketten verlief, wurde der Wind genau auf unsere Straße kanalisiert. Das war das zweite Mal, dass ich mich ärgerte, keine Dreifachkurbel zu haben. Als ich schließlich den Scheitelpunkt der Straße sah, freute ich mich unbändig auf die lange Abfahrt, die ja nun zweifelsohne kommen musste. Aber Pustekuchen: am Wegesrand ein Schild mit der Aufschrift 1:4 oder 1:5, jede Menge Kies auf der Straße und lange Pfützen in den Senken, sodass die nach geschätzten 10 km Auffahrt nur 3 km lange Abfahrt ausschließlich als Test der beiden Felgenbremsen taugte. Für mich immer wieder ein ätzendes Erlebnis, wenn die mühsam aufgebaute Lageenergie komplett in den Bremsen versandet.
Langsam mutierte der Rückenwind nun erst zum Seiten- und schließlich zum Rückenwind, und somit waren erstmals seit langem wieder Geschwindigkeiten um die 30 km/h in der Ebene möglich. In welcher Ebene eigentlich? Nun ja, ein paar Abschnitte davon gab es auch. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, etwa zur gleichen Zeit wie am Vortag im Basiscamp einzutrudeln, aber der heftige Wind hatte selbst die langsamste Marschtabelle komplett über den Haufen geworfen, auch wenn wir wieder unter den 15 ersten Teilnehmern ankamen.
Abendessen und Frühstück waren dann „same procedure as every day“. Abfahrt am Sonntag ebenfalls wieder 7 Uhr. Einige Teilnehmer kamen gerade von der zweiten Schleife zurück, als wir nach 6 Stunden Schlaf zur letzten großen Tour aufbrachen, und ich dachte mir, dass ich froh bin, nicht in deren Haut zu stecken, denn die Müdigkeit wird auf so langen Fahrten „schnell“ ein Problem.
Der dritte Tag verlief dann ähnlich dem zweiten, nur dass das Wetter wesentlich besser und weniger windig war. Nach 800 km konnte ich doch tatsächlich erstmals die Überschuhe ausziehen.
Ich wusste zwar wieder überhaupt nicht, wo ich eigentlich unterwegs war, aber ein landschaftliches Highlight jagte das nächste und die Anstiege waren teilweise wieder grausig schwer. Vom weltbekannten See Lochan na Lainge dann die vielleicht schönste Abfahrt, die ich je gefahren bin, jedenfalls fällt mir spontan keine schönere ein. Auf 5 km ging’s hinab ins Tal auf einer 2 m breiten Straßen, die zwar mit reichlich Kies und Schotter gespickt war, aber im Hellen dennoch gut befahrbar. Die Kehren waren aufgrund des Gegenverkehrs (waren zwar nur 3 Autos, aber die genau in den Kurven) lebensgefährlich, weshalb ich meinem Kollegen hinterher fuhr.
Nach einer Einkehr in einem idyllischen kleinen Restaurant an einem Fluss passierten wir die Ortschaft Dull, welche die Partnerschaft der US-amerikanischen Metropole Boring ist. Die erste Einschätzung lässt vermuten, dass Dull seinen Namen möglicherweise nicht ganz zu Unrecht trägt.
Um 23 Uhr hatten wir dann auch diese Etappe geschafft und beschlossen, nicht zu schlafen, sondern nach 1h Rast die letzten 70 km herunterzureißen. Inzwischen war unsere Gruppe auf vier Fahrer angewachsen, von denen einer zum Glück ein GPS hatte, was gerade nachts ein erheblicher Vorteil ist. Wir fuhren ansonsten die gesamte Tour nach dem ausgedruckten Streckenplan, was uns einige zusätzliche Kilometer bescherte.
Wer gedacht hatte, dass die letzten 70 km nur ein gemütliches Ausrollen würden, wurde böse enttäuscht, denn die Strecke hatte nicht nur reichlich Höhenmeter, sondern war vom „Asphalt“ her besonders schlecht. Ich hörte nur den Fahrer vorn mit dem GPS im Sekundentakt rufen: gravel, hole right, hole right, gravel, hole left…mindestens 20 Minuten ging das so und man musste den Lenker mit beiden Händen fest umklammern, um nicht zu stürzen. Trotzdem war ich mehrfach kurz vor einem unfreiwilligen Absteigen. Schließlich waren aber auch diese Klippen irgendwann umschifft und um 3 Uhr nachts war die Tour geschafft, was mit zwei Flaschen Bier, einem kleinen Glas Single Malt und jeder Menge Essen, vor allem wieder Trifle, entsprechend gefeiert wurde.
Mein Fazit: mir macht es deutlich mehr Spaß, solche Touren ohne massiven Schlafentzug zu fahren. Man freut sich auf den nächsten Tag und kämpft nicht ständig mit dem Sekundenschlaf, welcher die Fahrten ganz schön gefährlich machen kann. So kommt man trotz der langen Strecke zwar geschafft, aber nicht völlig übermüdet im Ziel an und braucht nicht 48h, um wieder einigermaßen beieinander zu sein.
Von den ursprünglich 69 Startern (von den 104 gemeldeten kamen letztendlich nicht mehr, die letzten ca. 10 blieben wohl spontan weg; diese Info nur für die, welche sich die 80 Starter aus der Einleitung gemerkt haben) erreichten 49 das Ziel, einige ganz knapp vor Torschluss. Von Stürzen habe ich nichts gehört, eigentlich ein Wunder. Technische Defekte gab es reichlich, Grippe- und Schwächeanfälle, aber keine ernsthaften Sachen. So mancher musste richtig beißen, um die Tour im Zeitlimit zu schaffen, und so saßen um 9 Uhr jede Menge erschöpfter Randonneure im Speisesaal am Start/Ziel.
Ich hatte es dann relativ eilig zum Flughafen zu kommen, denn mein Rückflug nach München startete um 13.10 Uhr. Chef Graeme bestand darauf, mich zum Flughafen zu fahren, und um 11.30 Uhr setzte er mich dort ab. Ich war dann etwas erstaunt, dass mein Flug nicht auf dem Monitor der „Departures“ zu sehen war. Ein Blick auf meinen Flugschein sorgte dann für Aufklärung: 13.10 Uhr stimmte schon, allerdings nicht Montag, sondern Dienstag. Sehr schön, mit einem riesigen Radkoffer am Flughafen zu stehen, und dann ein Hotel suchen zu müssen. Aber nach 1000 km auf dem Rad bekommt man das auch noch irgendwie gebacken und am nächsten Tag ging es dann wirklich heim von diesem verlängerten Wochenende der etwas anderen Art.
Bilder: selbst habe ich keine geschossen, aber dieses Fotoalbum vermittelt einen ziemlich guten Überblick:
https://picasaweb.google.com/zigzag5...68944765241298
Wenn man die ganzen Wolken sieht, muss man sich wirklich wundern, dass wir höchstens 70 km Regen hatten.
Abschließend noch eine herzliches Dankeschön an Cheforganisator Graeme und sein fleißiges Team, das praktisch vier Tage rund um die Uhr für die Teilnehmer da war. Viele Helfer waren wohl auch bis zu 20 Stunden täglich auf den Beinen!