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Szenekenner
Registriert seit: 30.05.2010
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Ich will...
...nicht in die Klinik! Ich habe überhaupt keine Lust, zur Arbeit zu gehen, sondern würde den Tag viel lieber verbummeln mit surfen im Internet, Mützen häkeln (meine neue Leidenschaft), lesen, schlafen, kochen. Jetzt muss ich aber gleich los, heute so spät, weil am Abend meine Angehörigengruppe ist.
Der Arbeitstag wird gleich mit meiner Gesprächsgruppe beginnen, auf die ich, unmotiviert wie ich bin, besonders wenig Lust habe. Ich weiß auch noch nicht, was ich mit den Herren und Damen Drogenabhängigen heute in der Gruppe tun will und Konzeptlosigkeit ist das sicherste Mittel, um die Gruppe vor die Wand zu fahren.
Dann hoffe ich auf einen Wohnheimplatz für einen Patienten, der schon wochenlang bei uns ist und sonst spätestens morgen wohnungslos entlassen wird, womit der Rückfall zu 100% garantiert ist. Nicht dass ich ihm mit Wohnheimplatz besonders große Chancen einräume, die Sauferei zu lassen und das Einnehmen großer Mengen Medikamente, aber dann gäbe es wenigstens eine Chance zumindest auf etwas Stabilisierung.
Übermorgen ist ein wichtiger Arbeitstag, denn da fahre ich mit einem meiner Lieblingspatienten zu einem Infogespräch in die "Torburg". Das ist eine soziotherapeutische Wohneinrichtung für Drogenabhängige, in der sie so lange wohnen können, wie sie wollen, bzw. es Sinn macht. Manche bleiben viele Jahre, manche bis zu ihrem Lebensende. Es ist ja so, dass die niedrigschwelligen, konsumbegleitenden Hilfen und die Methadonbehandlungen die Lebenserwartungen von drogenabhängigen Menschen zum Glück enorm erhöht hat. Dadurch kommen viele aber in Lebenssituationen, in denen sie das Szeneleben irgendwann nicht mehr wollen oder schaffen, mit einer eigenen Wohnung aus den verschiedensten Gründen nicht mehr klar kommen und deshalb Angebote der Suchtkrankenhilfe benötigen, die über Therapie hinaus gehen, die ja immer nur kurzfristig und auf Wiedereingliederung in das Berufsleben ausgerichtet ist.
Herr W. wird aber in seinem Leben ganz sicher nicht mehr auf dem 1. Arbeitsmarkt arbeiten gehen. Er ist ca. 40 Jahre alt, seit seinem ca. 14. Lebensjahr drogenabhängig, seit seinem ca. 10. Lebensjahr alkoholabhängig. Er ist rechtsradikal, früher extrem und auch gewaltbereit, heute spielt das nicht mehr so eine große Rolle für ihn auch wenn er diese Einstellungen sicher nicht ganz abgelegt hat. Er sieht wild aus, ist von Kopf bis Fuß, inklusive Gesicht, tätowiert, aber im Herzen ist es ein guter Mensch, der eine furchtbare Lebensgeschichte voller Gewalt und Missbrauch hinter sich hat. Meine mit ihm oft diskutierte These ist ja, dass er ein Fascho wurde, weil er so eine arme Sau ist. Wenn man nichts im Leben hat, auf das man stolz ist, weil man eben nichts erreicht und geschafft hat, dann muss man vielleicht auf etwas stolz sein, das man einfach hat, ohne etwas dafür tun zu müssen: seine Nationalität, seine Herkunft. Und dann muss man vielleicht andere Menschen so abwerten, damit irgendjemand gefühlt unter einem steht, noch weniger wert ist, weil man sich selbst als so wertlos empfindet.
Ich kenne Herrn W. seit ca. 13 Jahren und er vertraut mir sehr. Ich mag ihn sehr, er berührt mich immer wieder aufs Neue. Ich hoffe, dass das Gespräch übermorgen gut verläuft und dass er dann da am Ball bleibt. Denn dann müssten wir zusammen in einem aufwendigen Verfahren die Kostenübernahme beim überörtlichen Sozialhilfeträger beantragen und dann auf einen freien Platz warten, was in der Regel 6-12 Monate dauert.
Weil ich heute lange arbeite und danach in die Kino-Premiere von "Hannah Arendt" gehe, musste ich schon heute Morgen laufen.
Auf dem Programm standen 70 Minuten davon 40 Minuten Tempowechsel zwischen GA 1 und GA 3 Tempo. Da hat nur so mittelgut geklappt, bzw. eigentlich gar nicht. Ich glaube nicht, dass es mir gelungen ist, die Herzfrequenz so hoch zu kriegen. Es war auch noch dunkel als ich lief, da konnte ich die Uhr eh ohne Licht nicht ablesen. Ich bin dann einfach immer 3 Minuten ziemlich schnell gelaufen und 7 Minuten lockerer.
Jetzt bin ich schon wieder müde und könnte hübsch einschlafen.
Los jetzt, um 11 Uhr fängt die Gruppe an.
Bis die Tage!
J.
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