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Kleine Sonntagspredigt - Erich Kästner
KLEINE SONNTAGSPREDIGT
Jeden Sonntag hat man Kummer
und betraechtlichen Verdruss,
weil man an die Montagsnummer
seiner Zeitung denken muss.
Denn am Sonntag sind bestimmt
zwanzig Morde losgewesen!
Wer sich Zeit zum Lesen nimmt,
muss das montags alles lesen.
Eifersucht und Niedertracht
schweigen fast die ganze Woche.
Aber Sonntag frueh bis nacht
machen sie direkt Epoche.
Sonst hat niemand Zeit dazu,
sich mit sowas zu befassen.
Aber sonntags hat man Ruh,
und man kann sich gehen lassen.
Endlich hat man einmal Zeit,
geht spazieren, steht herum,
sucht mit seiner Gattin Streit
und bringt sie und alle um.
Gibt es wirklich nichts Gescheitres,
als sich, gleich gemeinen Moerdern,
mit den Seinen ohne weitres
in das Garnichts zu befoerdern?
Ach, die meisten Menschen sind
nicht geeignet, nichts zu machen!
Langeweile macht sie blind.
Dann passieren solche Sachen.
Lebten sie im Paradiese,
ohne Pflicht und Ziel und Not,
waer die erste Folge diese:
Alle schluegen alle tot.
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Das Leben ist ein Zeichnen ohne die Korrekturmöglichkeiten des Radiergummis.
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