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Zitat von qbz
Bisher gelang es Dir meines Erachtens nicht zu belegen, dass es eine "Übertherapie" in systemischem Umfang gibt.
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Danke für deine ausführliche Rückmeldung. Mir geht es nicht darum, jemandem vorschnell Übertherapie zu unterstellen. Deshalb nochmal präziser, was ich meine.
1) Chemo am Lebensende ist nicht „per se“ falsch.
Dass palliative Chemotherapie Symptome lindern und Lebenszeit verlängern kann, ist unstrittig. Darum geht es auch gar nicht. Die Frage ist: Wie häufig wird sie in einem Zeitraum angewendet, in dem der erwartbare Netto-Nutzen gegen Null geht?
Dazu gibt es belastbare Daten aus Deutschland. In einer Studie an mehreren deutschen Kliniken erhielten 38,3 % der Krebspatient:innen im letzten Monat eine Systemtherapie, 7,7 % sogar in der letzten Woche.
Die Autor:innen selbst sprechen von einem Risiko „therapeutischer Maßnahmen trotz fehlender Erfolgsaussicht (futility)“ und ordnen die Daten im Kontext von „aggressive end-of-life care“ ein. (Quelle: PLOS One, Uni München, 2014)
Das ist genau die Definition von low-value care: Maßnahmen, deren potenzieller Schaden oder Aufwand den erwartbaren Nutzen übersteigt – nicht per se falsch, aber in einem zu späten Stadium zu häufig.
2) Dass viele Menschen in Deutschland im Krankenhaus sterben, ist kein neutraler Strukturhinweis. Natürlich beeinflusst die Versorgungsstruktur den Sterbeort. Aber genau diese Struktur führt dazu, dass Palliativversorgung oft zu spät greift. In derselben Studie hatten nur rund ein Drittel der Sterbefälle überhaupt Kontakt zum Palliativteam – meistens erst in den letzten 1bis 3 Tagen vor dem Tod. Das ist kein Vorwurf an einzelne Kliniken, sondern ein Hinweis auf systemisch späte Integration. Und späte Palliativintegration korreliert international mit mehr Intensivtherapie, mehr Notaufnahmen und mehr Chemotherapie in den letzten Lebenstagen.
3) „10 % unangemessene ICU-Aufnahmen“ sind kein Bagatellwert.
Wenn Intensivmediziner retrospektiv selbst sagen, dass rund jede zehnte Aufnahme am Lebensende potenziell unangemessen war, dann reden wir nicht über Einzelfehler, sondern ein Muster. Schon klar, dass wir keine Hellseherei erwarten können, aber wenn retrospektiv der Nutzen minimal war, ist es legitim, daraus strukturelle Verbesserungsmöglichkeiten abzuleiten.
4) Ich schreibe nicht von Schuld, sondern von Optimierungspotenzial. Palliativteams sind gut. Onkologie ist gut. Was fehlt, ist angemessenes Timing. Das kann beinhalten frühere Advance Care Planning-Gespräche, frühere palliativmedizinische Mitbehandlung,
weniger Therapieversuche in Zonen, in denen der erwartete Netto-Nutzen minimal ist
In der internationalen Literatur nennt man das „aggressive end-of-life care“ bzw. „low-value care“. „Übertherapie“ ist nur die einfachere Übersetzung.
Mal kurz zusammengefasst:
Es geht nicht darum, aggressive Behandlung generell zu verurteilen, sondern darum, dass wir sie zu spät und zu häufig einsetzen. Nicht überall, nicht immer, aber systematisch häufiger, als es dem Patientenwohl in dieser Phase entspricht. Genau darauf weisen die Daten hin.
Interessant, sich mal wieder damit zu beschäftigen. Ich hatte das in der Diabetes Forschung als Querverweis genutzt.
Der Ursprung war ja eigentlich die Kostenseite. Dann drehen wir es mal um. Ich hatte die beiden größten Hebel genannt, wo wir wir im internationalen Vergleich viel einsetzen und keine Vorteile im Effekt sehen. Wo würdest Du denn ansetzen?