14.02.2022, 18:33
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Szenekenner
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Es kommt ja eher selten vor, dass ich einen Artikel aus der NZZ verlinke, aber dieses Interview scheint es mir wert, weil Thomas Greminger abseits der medial fast allgegenwärtigen Kriegsrhetorik reale Möglichkeiten der Konfliktlösung zur Friedenssicherung aufzeigt.
Der Schweizer Spitzendiplomat Thomas Greminger, ehemaliger OSZE-Generalsekretär, war 2014 massgeblich beteiligt an der Deeskalation zwischen West und Ost nach der Annexion der Krim. Im Interview skizziert er verschiedene Wege aus der gegenwärtigen Krise um die Ukraine.
Zitat:
Ja, die Situation ist sehr ungemütlich. Ich glaube allerdings nach wie vor, dass wir nördlich, östlich und südlich der Ukraine vor allem ein militärisches Muskelspiel im grossen Stil erleben. Ich sehe kein Interesse Russlands, militärische Operationen gegen die Ukraine zu führen. Die Kosten wären derart hoch, dass selbst ein «geringfügiger Angriff» gegen die Ukraine, wie es der amerikanische Präsident Joe Biden kürzlich formulierte, keinen Sinn ergibt. Ich halte Präsident Wladimir Putin für einen rational denkenden und handelnden Staatschef. Das grösste Risiko ist eine Provokation etwa mit einer False-Flag-Operation an der Kontaktlinie im Donbass. Hier muss man am genausten hinsehen.
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Das Einzige, was Moskau bis jetzt nicht erreicht hat, ist ein Dialog über das Grunddilemma: das Aufeinanderprallen der freien Bündniswahl souveräner Staaten mit dem Prinzip der «Unteilbarkeit von Sicherheit», dass also ein Land seine Sicherheit nicht auf Kosten eines anderen Landes erhöhen darf. Beides sind fundamentale Grundsätze, verankert im selben Artikel der Europäischen Sicherheitscharta, auf die sich die OSZE-Staaten 1999 in Istanbul geeinigt haben. Die Anerkennung, dass eine Versöhnung dieser beiden Prinzipien nötig ist, hat Putin noch nicht erhalten. Sonst hat er schon enorm viel erreicht.
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Wenn der Wille vorhanden ist, ist das weitestgehend möglich. Über drei Modelle wird diskutiert. Eines ist Neutralität für die Ukraine, aber realistischerweise ist das, unter russischem Druck erzwungen, keine Option. Theoretisch wäre es eine – mit entsprechenden Sicherheitsgarantien. Österreich ist ein Beispiel. Ein anderes sind verschiedene Formen von Moratorien, die man Kiew auferlegt. Ich bin allerdings skeptisch, dass das für die USA oder die Ukraine akzeptabel ist. Ein drittes Modell ist der «Zwei-plus-Vier-Vertrag» von 1990 anlässlich der Wiedervereinigung Deutschlands. Das Land war Nato-Mitglied, garantierte aber, dass in der ehemaligen DDR keine Infrastruktur und keine fremden Truppen des Bündnisses stationiert würden. Das gilt bis heute. Übertragen auf die Ukraine und verbunden mit regionalen Rüstungskontrollmassnahmen könnte das den russischen Sicherheitsbedenken Rechnung tragen. Diese haben eine gewisse Legitimität und sollte man ernst nehmen.
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Geändert von qbz (14.02.2022 um 19:12 Uhr).
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