Zitat:
Zitat von Klugschnacker
Mir geht es nur darum, einen einzelnen Menschen nicht zum Sündenbock für ein ganzes System zu machen.
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Alleiniger Sündenbock für ein System ist Ulle in der Öffentlichkeit nicht glaube ich. In Deutschland zumindest ist er - so nehme ich das wahr - allerdings das "Gesicht" des Systems bzw. er steht in der öffentlichen Wahrnehmung an vorderster Front stellvertretend für alle, die an dem "bösen Spiel" beteiligt waren. Wenn man dann auch noch selbst Dreck am Stecken hat, ist so jemand, den man nach vorne schieben kann, auch recht praktisch um von den eigenen Verfehlungen abzulenken. Also an der Stelle schon auch Sündenbock - aber eben eher für die anderen Beteiligten.
Das größte Problem dürfte Jan Ullrich wahrscheinlich damit haben, dass er irgendwann festgestellt hat, dass das Zentrum seines gesamtes Lebens (Radsport) auf einer Lüge (Doping) basierte.
Die "Lüge" (die er recht wahrscheinlich nicht als solche sah) wurde ihm auch von seinem Umfeld immer als "in Ordnung - das macht man so - sehr gut" verkauft. Welches kritisch reflektierende Umfeld wird JU sein Leben lang schon gehabt haben? Sollten je Zweifel bei ihm aufgekommen sein, so hat wahrscheinlich eines der mächtigsten Werkzeuge des Menschen für solche Fälle von "kognitiver Dissonanz" überhaupt gegriffen: Verdrängung.
Das die "große Lüge" unglaublich gut funktioniert hat (Erfolg, Ruhm, Geld) und das in seinem sozialen Umfeld das tatsächlich "alle" so gemacht haben und normal war, hat ihn zunächst wahrscheinlich auch nicht selbstkritischer werden lassen. Läuft ja. In dem Moment als das realisiert hat, ab dem Moment, ab dem Verdrängung nicht mehr funktioniert hat, war sein positives Selbstbild dahin. Das ist hart für einen Menschen. Evtl. hilft Alkohol dabei doch noch weiter zu verdrängen. Ich weiß es (Gott sei dank) nicht.
Freilich sind das persönliche Einschätzungen und Vermutungen. Diese Vermutungen basieren u.a. auch auf folgendem Erlebnis:
Ich hatte vor Jahren die Gelegenheit im Clubhaus eines Golfclubs den Menschen Jens Heppner - völlig abseits des Radsports ohne viele Leute - kennen zu lernen. Er hat sich fast nen Vormittag lang mit mir unterhalten. Ich habe die ganze Zeit fast nur zugehört und nie "die eine konkrete Frage" gestellt. Ohne jetzt auf Details einzugehen: Mir ist an dem Tag klar geworden, dass die Jungs in einer völlig(!) anderen Welt leben/lebten. Die waren sich echt keiner Schuld bewusst. Das ganze Gespräch war irgendwie ein einziger "Hilfeschrei" (metaphorisch) in der Art: Aber wir haben doch gar nix gemacht! Schau, was die Medien für Käse schreiben. Das war gar nicht so!
Man sollte tatsächlich vor der Beurteilung sehen wie das Leben dieser Leute verlaufen ist - die waren m. E. auf eine gewisse Art echt nur Passagier und Werkzeug - "reingerutscht" in dieses Leben quasi. Wie wir in Deutschland grundsätzlich mit "gefallenen Helden" umgehen ist schon a bisserl eigenartig. Bei uns kriegt nicht schnell einer ne zweite Chance: Ob das der erwischte Doper, der korrupte Politiker oder der insolvente Unternehmer ist. Das Stigma wirst du hier nicht mehr los.
Ich möchte nicht für Verständnis der Dopingpraxis im Radsport werben, dass sollte aber eh klar sein. Ich werbe für Verständnis für den Menschen vor dem Hintergrund seiner Sozialisierung und seines Lebens. Ich werbe auch für eine zweite Chance für - im konkreten Fall - Täteropfer/Opfertäter.
Jan Ullrich ist für mich ein Mensch, der mir Leid tut. Da schließe ich mich dem einen oder anderen hier an.
LG H.
