Ich versuch's mal auf eine andere Weise. Es gibt ein Jesus-Zitat (tatsächlich ist es eine Erfindung von Matthäus, der wiederum eine Erfindung eines anonymen Autors war), welches ungefährt lautet:
"Was Du dem Geringsten getan hast, das hast Du mir getan."
Nun könnte ich dies einfach als isoliertes Zitat nehmen und darin eine schöne Richtschnur für mein Handeln sehen, ohne mich mit dem historisch-theologischen Hintergrund zu befassen. Ich vermute, dass Du dies meinst, wenn Du sagst, manche Leute würden die Bibel eben "anders" lesen.
Damit bin ich völlig einverstanden. Ich selbst richte mich nach diesem Zitat, weil es eine allgemeine Lebensweisheit ist, die auch von anderen Denkern und Ethikern bereits formuliert worden ist ("den Zustand einer Gesellschaft erkennt man daran, wie sie mit ihren Minderheiten/Schwächsten umgeht").
Allerdings schanze ich der Bibel damit keine Autorität zu. Sondern die Autorität liegt bei meiner Einsicht, und nur zufällig habe ich den Satz in der Bibel gefunden. Er wäre auch ohne die Bibel wertvoll. Im Grunde hat es dann aber mit der Bibel nichts zu tun.
Das Problem bei der Bibel ist, dass 99% darin ziemlich fragwürdig ist. Daher sind schmalzige Hinweise auf die ach-so-weise Bibel, die letztlich nur zwei passable Verse enthält, nicht angebracht.
Meine These ist, dass die Bibel als eine Quelle von Ethik und Moral angesehen wird. Und genau das ist sie nicht. Weder kann sie es, noch will sie es.
Gerade das Beispiel mit den Flüchtlingen eignet sich gut, dies zu demonstrieren. Es mag einen Vers geben, mit dem man die Flüchtlings-Fürsorge rechtfertigen kann. Aber es gibt hundert Verse, in denen es als Hochverrat bezeichnet wird, da es sich um Andersgläubige handelt. Das gehört eben mit zur Wahrheit. Wer sich also fragt: "Wie soll ich mit den Flüchtlingen umgehen?", muss dann schon alle Antworten der Bibel berücksichtigen, oder zumindest eine plausible Auswahl treffen (und nicht nur einen Vers, der hundert anderen Versen widerspricht).
Ich habe mich hier und da für Flüchtlinge engagiert, weil ich eine Welt möchte, in der Barmherzigkeit eine praktische Rolle spielt, und weil mein eigenes Glück so viel zählt wie das Glück der anderen. Das sind vernünftige Gründe, für die ich keine Bibel brauche.
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