Zitat:
Zitat von Jörn
qbz, diesen Gedanken finde ich sehr interessant!
Ich habe in Zusammenhang mit Verschwörungstheorien schon öfter gehört, dass es dem Menschen angenehmer ist, anzunehmen, hinter Unglücken stünde eine Absicht. Dass es reiner Zufall ist, wird als unangenehm empfunden. Das kann man sicherlich auch auf undurchschaubare Prozesse ausdehnen, etwa Weltwirtschaft oder dergleichen.
Andererseits beobachte ich aber oft eine Art „Privatisierung“ des Glaubens (in Ermangelung eines passenderen Begriffs). Damit meine ich, dass Gott kaum noch für die großen Katastrophen verantwortlich gemacht wird, sondern stattdessen für kleine, private Dinge, etwa einen freien Parkplatz oder das schöne Wetter just am eigenen Geburtstag. Für den Welthunger und Erdbeben sind dann andere Mächte verantwortlich, beispielsweise die Gottlosigkeit der Welt.
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Im Alltagsdenken suchen die Menschen nach einfachen Erklärungsmustern, die ihnen scheinbar ganz gut helfen, ihren Alltag psychisch zu bewältigen, der in Wirklichkeit aus einer Einbindung in eine arbeitsteilige Welt besteht, wo der Mensch sich in Kreisläufen wie Produktion, Konsum, Familie, Bildung usf. an der Oberfläche - im Schein der obersten Fiktionen von Kapital und Arbeit - bewegt, die nur aus einer anderen Perspektive als der individuell-psychologischen, der soziologisch-historischen oder volkswirtschaftlichen begreifbar sind. Wäre die Existenz des Einzelnen gesicherter, die Gesellschaft gerechter, rationaler, transparenter organisiert und gäbe es keine Wirtschaftskrisen, die scheinbar wie Naturgewalten auftreten und ganze Landstriche entvölkern, würde der Einfluss der Religionen abnehmen.
Die psychologische Erklärung für Religionen, welche auf der familiär-tradierten Glaubensweitergabe beruht, trifft IMHO für Gesellschaften zu, welche sich in einer quasi stabilen Produktionsform befinden. Änderungen der beherrschenden Religionen können so nicht begriffen werden, wie z.B. den Übergang vom Polytheismus zum Monotheismus (Christentum) in Rom, genausowenig wie den Übergang zur Aufklärung und zum Atheismus.
Mich interessiert speziell diejenige Religionskritik, Ideologiekritik, welche sich damit beschäftigt, wie die Produktions-/Lebensweise der Menschen sich inhaltlich, machtmässig, funktional in den Religionen reflektiert. (z.B. das familäre Patriarchat) und wie die Religion mit den realen Widersprüchen der Gesellschaft umgeht (z.B. Armut-Reichtum, Imperium-Kolonie).
Man erkennt dann, dass die religiösen Institutionen und die Religionen selbst von den Widersprüchen der Gesellschaft geprägt sind / waren und diese auch in innerkirchlichen Konflikten bis hin zu Kriegen austragen.
Sophie Scholl erarbeitete sich zu Zeiten des Nationalsozialismus eine christlich-gläubige Grundhaltung, die sie in aktiven Widerstand zur Naziherrschaft brachte, während herrschende Kirchenkreise sich anpassten.