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Szenekenner
Registriert seit: 30.05.2010
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Wer geht schon gerne zu Beerdigungen? Und kann eine Beerdigung schön sein?
Ja! Sie kann.
Heute ist der "Biber" beerdigt worden. Das ist ein ehemaliger Patient von uns, "Biber" war sein Spitzname. Früher war er öfter bei uns zur Entgiftung. Er war fast sein ganzes Leben lang heroinabhängig. Bei seinem letzten Aufenthalt bei uns, 2007, ging es ihm körperlich sehr schlecht. Die Ärzte sagten ihm, dass er bald sterben werde, wenn er so weiter mache. Er bekam kaum noch Luft, war sehr dünn, es war schrecklich.
Das war sein letzter Aufenthalt bei uns, danach blieb er abstinent. Er zog mit einem Freund zusammen, der zeitgleich mit ihm entgiftete. Wir waren alle skeptisch, ob das eine gute Idee ist, aber die beiden haben sich gegenseitig unterstützt und es hat geklappt.
Zuletzt hatte er eine nette Freundin, die nicht suchtkrank war, hatte regelmäßig Kontakt zu seinem heute jugendlichen Sohn, den er über alles liebte. Er hatte zwar keine Arbeit, aber einen Hund, hat seinen Führerschein für den Roller gemacht und ging zum Tanzen raus.
Er nahm nie wieder Heroin. Er kiffte wohl öfter und erstauntlicherweise gelang es ihm, entgegen aller Wahrscheinlichkeiten und Fachmeinungen, kontrolliert Alkohol zu trinken, obwohl er früher massiv abhängig war. Er trank ab und zu ein, zwei Bier, dabei blieb es.
Er hielt immer den Kontakt zu uns. Er besuchte uns regelmäßig, er kam, wenn er Hilfe brauchte, er kam, wenn es ihm gut ging. Er berichtete aktuellen Patienten, wie er es geschafft hat und dass es sich lohnt.
Letzte Woche ist er gestorben, an einem Herzinfarkt vermutlich, im Bad mit der Zahnbürste in der Hand. Ein anderer ehemaliger Patient, den ich heute auf der Beerdigung traf und der schon seit 2003 clean ist, sagte zu mir: "Das schönste ist, dass er nicht an Drogen gestorben ist. Und dass ich das auch nicht tun werde!" Ja, genau das dachte ich auch, er war die letzten Jahre seines Lebens sehr glücklich.
Aber das beeindruckendste war: Es waren ca. 200 (!) Leute da, um Abschied von ihm zu nehmen! Ich war noch nie auf einer Beerdigung mit so vielen Menschen. Es hat mich extrem berührt, dass ein Mensch, der durch seine Sucht doch am Rande unserer Gesellschaft gelebt hat, so viele Freunde hatte, so viele Menschen, die ihn liebten, ihn mochten, ihn schätzten. Es waren sehr viele drogenabhängige Menschen da. Gezeichnet von ihrer Sucht, vorgealtert wie er selbst. In Gesprächen sagten mir mehrere, dass sie Angst haben, auch so früh zu sterben. Sie wissen, was sie ihrem Körper angetan haben. (Um ihre verletzten Seelen zu schützen.)
Es war auch ein lustiges Bild, da in der Kapelle und hinterher am Grab: Obschon die meisten wie der Biber nicht mehr ganz jung sind, sehen sie nicht aus wie die meisten ca. 50 Jährigen. Sondern sie sind gepierct, tättowiert überall (unglaublich viele Männer hatten reizende Spinnennetz o.ä. Tattoos auf der Kopfhaut), ungewöhnlich gekleidet und sie stehen rauchend um das Urnengrab herum.
Es sind viele Tränen geflossen, aber es war tatsächlich auch sehr schön.
Die Pfarrerin hat eine schöne Rede gehalten, nicht unangemessen auf die Religion fokussiert, die Sucht überhaupt nicht aussparend, den Biber treffend und liebevoll beschreibend, so dass wir immer wieder lächeln mussten.
Ich bin froh, dass ich hingegangen bin. Ohne einen Patienten, der mich bat, ihn hinzufahren, wäre ich wohl nicht hin. Von der Station waren wir zu dritt. Ein anderer uns bekannter Drogenkonsument sagte mir, es sei schon die 15. Beerdigung in diesem Jahr für ihn. Aber so viele wie heute seien nie da gewesen.
In seinem Stadtteil war er bekannt wie ein bunter Hund und ich kenne niemanden, der ihn nicht mochte.
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