Zitat von Klugschnacker
Ich würde gerne auf Deine Meinung eingehen. Sie ist jedoch so pauschal oder allgemein, dass ich nicht genau weiß, was Du konkret damit meinst. Ich versuche durchaus, Ullrichs persönliches Verschulden fundiert und differenziert zu bewerten. Hier noch ein Versuch einer Einordnung.
Margot Kässmann fuhr im Suff über eine rote Ampel. Aus reinem Glück kam niemand zu schaden. Sie legte ihr Amt nieder und gilt seither als Musterbeispiel an Lauterkeit und Wahrhaftigkeit.
Michael Ballack grätschte im Kampf um den Einzug ins WM-Finale einen bereits enteilten Gegner um. Da er bereits Gelb für ein anderes schweres Foul hatte, fehlte er deshalb im Finale. Man feierte ihn als jemanden, der sich für das Team und damit für Deutschland geopfert hatte. Moralisch wurde er dadurch entschuldigt, dass er das tat, was im Fußball üblich war. Ich habe nicht gehört, dass die Deutschen deshalb die Teilnahme ihrer Mannschaft am Finale unmoralisch fanden.
Jan Ullrich tat ebenfalls das, was in seinem Sport üblich war. Es war falsch, denn es verstieß gegen die Regeln. Aber kein Mensch in Jans Umfeld scherte sich um die Regeln, solange sich der Selbstbetrug aufrechterhalten ließ. Weder Scharping, noch Poschmann, noch die Bild-Zeitung nahmen Stellung zu dem, was längst offensichtlich war. Heute benutzen wir Ullrich als Sündenbock für ein gemeinsam zu verantwortendes System und als Symbol für sportlichen Betrug, und delektieren uns an seinem persönlichen Niedergang. Mit ihm sind wir erst fertig, wenn er ganz unten ist. Bereits seine mitleiderregenden Starts bei Jedermannrennen motivieren uns zu moralisch-entrüsteten Statements.
In allen drei Beispielen erlaubt sich unsere Gesellschaft moralische Bewertungen, zu denen sie in Wahrheit gar nicht in der Lage ist. Kässmann war geschickter und klüger als Ullrich, Ballack hatte den richtigen Sport, Ullrich war tölpelhaft und ungeschickt. Entsprechend fallen unsere Urteile aus. Sie richten sich nach dem Umgang mit der eigentlichen Tat, aber finden in der Tat selbst kaum eine Rechtfertigung.
Letztlich ist es der Voyeurismus und Ullrichs atemberaubende Fallhöhe, nach denen die Schlagzeilen und ihre Leser süchtig sind.
Grüße,
Arne
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