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triathlon-szene.de | Europas aktivstes Triathlon Forum - Einzelnen Beitrag anzeigen - Challenge MS, für das Gefühl des "Ich kann noch"
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Alt 09.01.2022, 15:28   #3139
FMMT
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Genau vor 9 Jahren hatte ich einen Zusammenbruch mit anschließender MS-Diagnose. Um diese Zeit rum lag ich hungrig, einsam und mit düsteren Gedanken im 50 km entfernten Krankenhaus. Herzblatt war noch unterwegs zu mir.

Auch in der aktuell oft nicht einfachen Zeit helfen Erinnerungen, dass es doch weiter gehen kann. Selten einfach, aber oft ist mehr möglich, als anfangs gedacht.

Deswegen und als Erklärung, warum ich vor einigen Tagen einen megariesigen Respekt bei der Anmeldung für Taubertal hatte, ein Auszug aus einem früheren Beitrag und meinen Buch.
Aufgeben wird aufgegeben.


Demut

Taubertal 100, Oktober 2018
Ich trabe inmitten von 250 Gleichgesinnten, mit einer im Wind heftig zuckenden Fackel in der Hand, durch die mittelalterlichen, dunklen Kopfsteinpflastergassen von Rothenburg. Im Burggarten bekommen wir von einem wehrhaft gerüsteten Ritter hoch zu Ross den Auftrag, eine Botschaft in die weit entfernten Ziele Bad Mergentheim (50 km), Tauberbischofsheim (71 km), Wertheim (100 km) oder Gemünden (100 mi) zu überbringen. Den Ort und den tieferen Sinn dürfen wir selbst wählen, zwischendurch aufzuhören wäre aber unbedingt zu vermeiden und würde mit DNF („Darf Nicht Feiern" ) bestraft.
Nach einem steilen, engen Abstieg ins Taubertal starten wir pünktlich um 6 Uhr. Wohltuend gemütlich sortiert sich nach und nach das Feld. Die Stirnlampen ermöglichen genügend Sicht, die Landschaft ist anfangs aber nur zu erahnen, die Strecke unvorstellbar lang, die Stimmung trotzdem gelassen. Ich denke an die Zeit, als ich Wochen nach der MS-Diagnose unglaublich glücklich war über einen ersten kurzen, wenige Minuten dauernden Lauf - auch damals ging es zu einem Schloss. Nicht weit, nicht schnell, aber wieder zurück im aktiven Leben . Nach einer Stunde kann ich die Stirnlampe abgeben, der beginnende Tag spendet ausreichend Licht. Alle 5 Kilometer gibt es Verpflegung. Der Veranstalter, der Sportler und erfolgreiche Buchautor Hubert Beck, legt großen Wert auf verträgliche basische Produkte. Bestens versorgt treffe ich bald einen lieben Landsmann. Wir vertreiben uns die Zeit mit Geschichten. Auch andere Läufer lerne ich kennen. Man sieht sich hier nicht als Konkurrenz, sondern als Schicksalsgenossen. Die Helfer sind sehr aufmerksam und ermöglichen zeitsparende Straßenwechsel auf der vorzüglich ausgeschilderten Strecke. Sie ist für den normalen Autoverkehr nicht gesperrt, aber da wir fast durchgehend auf dem Taubertal-Radweg laufen, ist dies kein wirkliches Hindernis.

Bad Mergentheim – und damit die 50-km-Marke - erreiche ich nach 5:26 Std.
Ich trabe langsam, aber noch kontinuierlich weiter. Es wird jetzt deutlich schwieriger. Ich greife in die psychologische Trickkiste und versuche, den Schmerz zu umarmen, denn heute will ich unbedingt ins Ziel. Lange Zeit marschiert ein älterer Athlet so dynamisch neben mir, dass ich trabend nicht schneller bin als er. Man merkt deutlich, dass er im Gegensatz zu mir über reichlich Erfahrung auf solch langen Distanzen verfügt. Nach 8:16 Stunden passiere ich erschöpft die Ziellinie in Tauberbischofsheim. 71 km, soweit, so gut.
Jetzt lerne ich allerdings meine Botschaft kennen und die heißt: Demut. Ich werde charmant gefragt, ob bei mir alles noch in Ordnung ist, ob ich weiter laufen möchte. Das ist eine gute Frage. Vielleicht hätte ich aufhören sollen, doch irgendetwas in mir blendet heute die Vernunft komplett aus . Die letzten Tage waren außersportlich extrem fordernd, ich brauche unbedingt den mentalen Ausgleich, bejahe die Frage also rasch und haste weiter, ehe ich mir es anders überlegen könnte. Das erneute Anlaufen fällt mir immer wieder schwer, die Krämpfe und Schmerzen in den Oberschenkeln sind schon seit Stunden stark. Ein kleiner Junge meint zu seinen Eltern, als ich an ihnen vorbeilaufe: „Der ist aber langsam“. Kindermund tut Wahrheit kund, grinse ich noch. Aber in so einer Phase wären mir wohlmeinende Schmeicheleien lieber. Ich registriere, welch traurige Gestalt ich wohl abgebe. Nach dem nächsten Hügelchen gebe ich die kümmerlichen Laufversuche auf und marschiere. Dabei schließe ich meine Augen, zähle bis 5 (was gerade noch so klappt), öffne sie erwartungsfroh: Mist, Mist. Hoffnung vertan. Ich liege nicht verträumt im Bett, ich bin wirklich unterwegs. Und wie! Das ist weder Wandern noch Gehen, eher ein mühsames Stolpern, jeder Schritt raubt mir den Atem. Wenn ich jetzt aufhöre, kassiere ich ein DNF. Das erste überhaupt, und doch ist es mir völlig egal. Ich kann nicht mehr . Die Last der letzten Tage und Wochen erdrückt mich, alles in mir ist ein einziger Krampf. An der einsamen Verpflegungsstelle bei Km 75 treffe ich Herzblatt. Ich will etwas trinken, das geht nicht, mein Kreislauf droht schlappzumachen. Zum Glück ist gerade eine Bank in der Nähe. Ich lege mich hin. Herzblatt hält meine Füße hoch. Ich mag nicht mehr. Ich sage ihr, dass ich aufhören werde. Ich habe keine Lust, zwischendurch umzufallen und es wären noch mindestens 5 Stunden Quälerei. Herzblatt macht alles mit, sie massiert mir die Beine, wodurch sich die Krämpfe etwas lösen. Auch der Kreislauf stabilisiert sich.

Ich stehe auf, sehe Herzblatt in die Augen , fasse Mut, wanke weiter mit der Hoffnung auf neue Hoffnung. Mein Ego muss ich ausblenden, jetzt ist keiner mehr langsamer als ich, selbst Geher überholen mich. Es ist unvorstellbar, wie lang ein Kilometer sein kann. Ich kann an nichts denken, bin jenseits von Gut und Böse. Es ist einsam, ich summe und pfeife irgendwelche Lieder, Melodien. Etwas, dass ich sonst in 100 Jahren nie machen würde. Egal, es motiviert. Ich hatte schon einige krasse Aktionen, doch noch nie war ich so fertig. Wenigstens der Kreislauf ist stabil, sonst hätte ich aufgehört. Meine krampfende Oberschenkelmuskulatur ist übersäuert, ich schwanke mehr als dass ich gehe , kein Wunder, dass meine GPS-Uhr immer größere Zeiten zwischen den KM-Markierungen anzeigt. Die Landschaft wird hügelig, wobei es für mich bergauf weniger schwierig ist als bergab. KM 90, zum Glück habe ich meine Stirnlampe wieder. Sie strahlt zwar nicht sehr hell, aber es genügt, sonst wäre es im dunklen Wald doch heikel. Ich hoffe, dass sie nicht ausgeht und versuche mich deshalb etwas zu beeilen. Bei km 95 gibt es eine erste Cola, die soll mich aufputschen. Immer noch werde ich überholt, wenn auch selten. Die Mitstreiter sind allerdings schnell wieder weg. In Wertheim wartet Herzblatt, kommt mir entgegen, begleitet mich die letzten Meter, ich schwanke unterhalb der Burg über die Ziellinie und erhalte nach 14:26 Std. den ersehnten Ritterschlag für die 100 km.
Sportlich war es ein Desaster, ich hatte reichlich Gelegenheit, Demut zu lernen. Und doch beschleicht mich auch ein kurioser Gedanke: „Ich kann immer noch Blödsinn machen, wenn ich Lust darauf habe." 
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Meine Sehnsüchte:
Glückliche Familie , Freude am Sport und immer Sonne im Herzen
Challenge MS, für das Gefühl des "Ich kann noch"

Das Leben ist zu kurz für Beinschlagtraining
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