Zitat:
Zitat von waden
Ich respektiere dabei übrigens die guten Folgen, die es hat, einmal in der Woche in sich zu gehen, und sich darauf zu besinnen, offen, ehrlich, freundlich respektvoll und tolerant zu handeln. Offensichtlich gibt es auch viele Menschen, die das so für sich aus den Gottesdiensten herausziehen, und das gehört zu der guten Wirkung.
|
Hallo waden, Du beschreibst die positive Wirkung, wenn man sich einmal pro Woche im Gottesdienst darauf besinnt, offen, ehrlich, freundlich, respektvoll und tolerant zu handeln.
Ich füge hinzu: Wenigstens diesen positiven Effekt, egal ob es Gott gibt oder nicht, müssen die Atheisten doch anerkennen?
Nö.
Zu
Wirkungen gehört nämlich auch, dass sich Wirkungen nachweisen lassen. Die reine
Einbildung der eigenen Vorzüglichkeit ist etwas anderes. Es sei denn, man würde mit „Wirkung“ eben diese Einbildung meinen. Sobald mit „Wirkung“ eine Auswirkung auf andere gemeint ist, müsste es Beweise geben. Wo sind sie?
Meine Skepsis nimmt seinen Ausgangspunkt in meinem persönlichen Bekanntenkreis. Das ist zwar nicht repräsentativ, aber ausreichend für einen ersten Verdacht. Jene meiner Bekannten, die in Kirchen beten, sind völlig ahnungslos, was Gesprächsthemen wie Ethik, Moral, Sinnstiftung, Toleranz (und seine Grenzen) angeht. Stets ergibt sich der Eindruck, dass sie die Pflicht, sich irgendwann mit diesen Themen auseinanderzusetzen,
delegiert haben: Weil sie Christen sind, und weil im Christentum sicherlich schon mal jemand gründlich über diese Dinge nachgedacht hat, entfällt die Pflicht, dies selbst zu tun.
Ähnliches zeigt sich in diesem Thread. Verblüffende Stille herrscht bei Themen wie Moral oder Sinnstiftung. Kirchen haben diese Themen nämlich nicht nur innerhalb der Gesellschaft monopolisiert, sondern auch innerhalb der Gläubigen: Was Moral und Sinn ist, weiß nur der Bischof, und der kleine Gläubige soll sich da besser nicht einmischen, denn sonst wird er mit gelehrt klingendem lateinischen Nonsense überschüttet. Der kleine Gläubige soll stattdessen folgsam sein und sich keine eigenen Gedanken machen. Was Moral ist, wird alle 20 Jahre auf irgendeiner Konferenz festgelegt — und wehe, man kommt diesen Herrschaften in die Quere.
Kirchgänger sind nach meiner Beobachtung so felsenfest davon überzeugt, dass sie
automatisch offen, ehrlich, freundlich, respektvoll und tolerant sind, dass sie erstens diese Annahme nicht überprüfen, und zweitens, dass sie recht wenig dafür tun.
Dass sie recht wenig dafür tun, sieht man auch daran, dass die Gläubigen bei praktisch allen gesellschaftlichen Veränderungen hin zu mehr Offenheit und Toleranz um 40 Jahre hinterher hinken. Auch für Ungläubige war es nicht ganz einfach, die Vorbehalte gegen Homosexuelle als Mumpitz zu erkennen; es erforderte, seinen eigenen Standpunkt zu überprüfen und zu ändern. Auch die gesellschaftliche Benachteiligung der Frauen war nicht einfach zu überwinden, denn es erforderte eine Änderung der eigenen Position. Dieses aktive Handeln und Sich-Bewegen ist genau das Gegenteil dessen, was wir bei Gläubigen und ihren offiziellen Vertretern finden. Dort sind Kondome immer noch ein Werk des Satans; Frauen sind dem Manne zwar wertgleich, aber immer noch untergeordnet; Homosexuelle sind immer noch verworfen. Ein Vergleich mit dem Jahr 1200 offenbart wenige Unterschiede, oder irre ich mich?
Wenn der Gottesdienst eine messbare Wirkung hätte, dann müsste dieser Teil der Bevölkerung messbar offener, ehrlicher, freundlicher, respektvoller und toleranter sein. Tatsächlich sind Gläubige als Bevölkerungsgruppe im besten Fall unscheinbar, wahrscheinlich jedoch auffällig unbeweglich. Ist es nicht unsere Alltagserfahrung, dass Leute umso starrköpfiger sind, desto mehr sie in die Kirche gehen? Es scheint mir direkt ein Klischee zu sein.
Sind sie ehrlicher? Wenigstens im Gottesdienst? Im Gottesdienst wird ausschließlich gelogen, und zwar von beiden Seiten, dem Vortragenden wie den Zuhörern. Kein Gläubiger glaubt den Quatsch, den der Pfarrer vorne verzapft, denn jeder Gläubige glaubt an etwas anderes. Nach meiner Beobachtung schalten die Zuhörer sowieso auf Durchzug, sobald die Predigt beginnt. Alle lügen sich gegenseitig in die Tasche, dass ihre Gebete irgendwas bewirken könnten. Es ist lediglich ein Vorwand, nichts Handfestes tun zu müssen, um die Welt zu verbessern. Immerhin haben wir gebetet! (Außerdem wird vor allem für das
eigene Heil gebetet.)
Wie würde unsere Welt aussehen, wenn alle Gläubigen der Welt
tatsächlich offener, ehrlicher, freundlicher, respektvoller und toleranter wären als andere? Es wäre eine fundamental andere Welt als die, die wir tatsächlich vorfinden.
Danke fürs Lesen!
PS: Dein Posting fand ich insgesamt sehr lesenswert und gut begründet; dies stellt also nur eine andere Sichtweise eines einzelnen Details dar.