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Szenekenner
Registriert seit: 30.05.2010
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Als ich nach dem gestrigen Ausflug zur Cranger Kirmes, im Keller ein Foto von "Christians Rad" machte, dachte ich, dass ich nun endlich auch mal ein Bildchen in die Stadtschlampen-Galerie stellen kann.
Mache ich auch, leider ist das Bild voll verwackelt. Egal, ihr könnte wohl trotzdem erkennen, wie es aussieht.
"Christians Rad" gehörte, wie der Name sagt, einem Christian. Dieser Christian ist mein Bruder, der vor 27 Jahren starb. Das Fahrrad (ein Stahlrahmen natürlich) war ursprünglich mal blau. Christian hatte es mit Spraydosen rot gemacht und Flecken drauf gesprüht. An manchen Stellen kommt aber schon die ursprüngliche Farbe wieder heraus.
Das Rad war, zusammen mit einigen anderen Dingen aus Christians Besitz, jahrelang eine Reliquie, die mein Vater gehütet hat wie seinen Augapfel. Irgendwann habe ich ihm das Rad aus dem Kreuz geleiert, habe es aber früher nie irgendwo abgestellt aus Angst, es könnte geklaut werden.
Daher gibt es eine nette Episode aus der Zeit, als ich noch superfrisch mit meinem Liebsten zusammen war, vor mehr als 20 Jahren also: Er arbeitete bei einem Freund an seiner Diplomarbeit, es war Winter, arschkalt, glatt und dunkel und ich hatte Sehnsucht nach ihm, der plante, die ganze Nacht dort weiter zu arbeiten. Ich war vernünftig und setzte mich nicht auf die Vespa, die ich damals fuhr, sondern nahm das Rad. Christians Rad. Ich kam bis zum Hauptbahnhof, wo ich mich bei raschem Tempo an einer glatten Stelle aufs Maul legte und mit dem Kopf (unbehelmt, logisch! Damals besaß ich so was noch nicht mal...) auf eine Gehweg-Kante stieß. Eine hübsche Platzwunde sorgte dafür, dass das Blut in Strömen floss. Ich lag sabbernd und heulend am Boden und von den Arschloch-Autofahrern hielt kein Schwein an.
Ich rappelte mich auf und mir war klar, dass das wohl genäht werden muss, wo das Blut aus mir heraus floss. Ich hatte aber kein Schloss, weil ich Christians Rad ja nie irgendwo stehen ließ, das hatte ich meinem Vater versprochen. Also schob ich es zum Taxistand, um eine Kombi-Taxi zu suchen, das das Rad und mich zum Krankenhaus fährt.
Die erste Reaktion mehrerer Taxifahrer als sie mich sahen war, dass sie die Türen ihrer Wagen verriegelten. Ich sah wohl übel aus, nass, siffig und blutend, und am Bahnhof wird man so gleich erst mal in die Junkie-Schublade oder so gesteckt.
Ich fand dann doch einen mit Kombi, der sich erbarmte. Weil ich nicht so viel Geld hatte, um den mit dem Rad im Auto wartenden Taxifahrer zu bezahlen, musste ich also erst nach Hause und konnte dann erst ins Krankenhaus, wo die Wunde geklammert wurde.
So viel Sorge hatte ich um dieses Rad, das total scheiße aussieht und noch beschissener fährt, dass ich trotz heftiger Schmerzen einen fetten Umweg in Kauf nahm!
Mittlerweile ist es keine Reliquie meines Vaters mehr, sondern mein Alltagsrad, das ich überall stehen lasse, aber natürlich nur angeschlossen, weil es auch bei mir einen reliquienhaften Charakter hat und einer meiner kostbarsten Besitztümer.
Eigentlich wollte ich, in Erinnerung an meinen geliebten Bruder, damit immer mal einen Langdistanz-Triathlon bestreiten, aber nach meiner Episode mit dem MTB beim Klagenfurt Ironman habe ich mir das anders überlegt.
Mein Liebster hat jedenfalls viel an dem Rad gemacht. Es hat keinen Rennlenker mehr, dafür aber einen Gepäckträger, einen Nabendynamo und eine Nabenschaltung. Es hat eine tolle Blumen-Klingel und einen Ständer. Es wiegt ca. 2000 kg und fährt vor allem bergauf so richtig grottenschlecht.
Jetzt werde ich damit ins Schwimmbad radeln. Mit dem Rad meines Bruders an einen Ort unserer Kindheit. Herrlich!
Viele Grüße
J.
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