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				Beißen, Luise, beißen
			 
 Struwwelpeterlauf in Frankfurt. Ganze 420 Meter am Stück müssen gelaufen werden. Zur Belohnung befindet sich das Ziel in der Frankfurter Festhalle: dunkel, aber mit Disco-Beleuchtung, dröhnend lauter Musik vom Band und Moderation. Und fast wäre der Dicke heute nicht dabei gewesen. 
 Mein Mann will die Unterlagen für seinen ersten Marathon in Frankfurt abholen und der Dicke und ich wollen mit. Nicht auszudenken, uns entginge ein Schnäppchen auf der Marathonmesse. Der kleine Blonde möchte beim Struwwlpeterlauf mitlaufen. Also eigentlich. Aber leider gefallen ihm die Laufsachen nicht, die ich ihm hingelegt habe und er fängt das große Lamentieren an und weiß auch nicht, was er anziehen möchte. Eine Zeitlang versuche ich es ihm Guten und mit diversen Vorschlägen, dann reißt mir der Geduldsfaden. Seit dieses Kind zweieinhalb Jahre alt ist, ringen wir um die Auswahl nahezu jeden einzelnen Kleidungsstückes, das angezogen wird. Oder eben auch nicht angezogen wird. Und so langsam habe ich es satt. Eigener Kopf, schön und gut. Aber ich habe auch einen und der hat die Faxen jetzt dicke. Ich werfe dem verblüfften Zwerg die Styling-Auswahl vor die Füße und schimpfe: "Dann mach´s selbst." Eine Weile hört man nichts. Dann Geheule und Geheule und noch mehr Geheule. Plötzlich hallt ein empörter Aufschrei durch die Wohnung: "Ich habe ÜBERHAUPT GAR NICHTS anzuziehen." "Gut," rufe ich in Richtung obere Etage, "dann kann ich deine ganzen Sportsachen ja weggeben, wenn du sie nicht mehr brauchst." Dann streiten wir noch ein Weilchen, vertragen uns schließlich und kommen zügig zu einem Auswahl-Ergebnis. Warum nicht gleich so.
 
 Als der Dicke nach 350 Metern an mir vorbei saust, hoffe ich, dass ihm die dunkelblaue New York Yankee-Mütze nicht noch weiter über die Augen rutscht. Sonst wird es für ihn noch vor der Festhalle zappenduster. Aber da Opa genau den gleichen Kopfwärmer hat, wird diese heilige Mütze stets getragen sobald auch nur ein Schritt vor die Tür gesetzt wird. Nachdem der Junior vorbei ist, beklatsche ich noch die weiteren Kinder, die so angerauscht kommen und von ihrem eigenen Tun mal mehr und mal weniger angetan zu sein scheinen. Luise zum Besipiel ist ein kleines hübsches Mädchen, das so aussieht als würde es lieber im Warmen Geige üben als hier bei vier Grad Außentemperatur im letzten Drittel des Packs unterwegs zu sein. Den vermutlichen Kindsvater stört das nicht, und er versucht, dem Töchterlein die letzten Reserven zu entlocken: "Beißen, Lusie, beißen!" ruft er ihr zu und rennt neben der Absperrung her und wird sich gleich irgendwie an der Seite in die Frankfurter Festhalle drücken. Ziemlich am Ende des Feldes kommt ein Junge, für den es sich lohnt, stehenzubleiben. Er hat kurze Haare, eine dicke Brille auf der kleinen Nase und das Laufen fällt ihm weiß Gott nicht leicht. Ganz weit lehne ich mich über das rot-weiße Flatterband, rufe ihm "Super machst du das, gleich hast du´s geschafft!" zu und halte ihm meine Hand hin. Konzentriert klatscht er mich ab und beißt sich weiter durch Richtung Ziel. So klein und so ein großes Kämpferherz.
 
 Nachmittags gehen wir noch in die Sporthalle hinterm Haus und gucken uns Liga-Turnen der Männer an. Der Rest des Tages verläuft friedlich. Ebenso der darauffolgende Sonntag, an dem der Dicke und ich den Haushaltsvorstand bei ein paar Grad über Null und Sonnenschein an der Laufstrecke supporten. Nicht einmal wird gequengelt, nicht einmal gemeckert. Das war schon immer. Auf jeder Sportveranstaltung haben wir das liebste Kind der Welt, aber wehe es soll mal allein zu Hause spielen.
 
 Zum Abschluss des Tages bekommen wir dann noch ein gutes Beispiel für elterliche Fehleinschätzung geliefert. Beim Zubettgehen wird wie jeden Abend gefragt, was denn am Tag am schönsten gewesen sei. Die Antwort dürfte auch hartgesottene Pädagogen verblüffen: "Die Frauen, Papa," meint der Lütte trocken, "die da im  Ziel so getanzt haben. Die mit den nackten Bäuchen und den Puscheln, wo die Röcke immer so hoch geflogen sind und man die Unterhose sehen konnte." Dann schläft er ein.
 
 Später lacht er im Schlaf. Vielleicht hat ihn ein Puschel gekitzelt.
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