Hallo zusammen!
Die Materialschlacht ist überall in vollem Gange. Ich habe Euch hier mal zwei aktuelle Artikel eines Kollegen und Freundes (Sportredakteur bei der NZZ) reinkopiert - natürlich mit seiner Genehmigung

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In voller Montur zum nächsten Weltrekord
Schwimmen ist eine Materialschlacht. Ab Dienstag sind an den EM die neuen Ganzkörperanzüge zu sehen.
Von Christof Gertsch
Künstlicher Nebel, viele Scheinwerfer, gespannte Gesichter, dann tauchte, wie aus dem Nichts, Michael Phelps auf. Es war nur ein Hologramm von ihm, aber das Hologramm konnte sprechen. Es sagte: «Ich fühle mich wie eine Rakete beim Start, es ist, als trüge ich einen Raumanzug.» Phelps, Amerikaner und der beste Schwimmer der Welt, sprach zu den Menschen, und sie hörten ihm zu. Die Präsentation des neuen Ganzkörperanzugs von Speedo war inszeniert wie die Lancierung des iPhones: mit viel Tamtam, erst in Sydney, dann in London, New York und Tokio. Dass Phelps den sogenannten «Fastskin LZR Racer» mit einem Raumanzug verglich, der doch eigentlich schwer und ungelenkig ist, war in dem Moment nebensächlich. Phelps wäre wohl auch dann kaum zu schlagen, wenn er Helm und Schuhwerk trüge, ausserdem: Wen stören Worte, wenn Weltrekorde angekündigt werden?
83 Prozent der Medaillengewinner an den Olympischen Spielen in Sydney schwammen in Bade-Utensilien von Speedo. Der «Fastskin LZR Racer» ist die vierte Generation der Ganzkörperanzüge. 21 Weltrekorde sind mit seinem Vorgänger seit 2007 unterboten worden. Noch Fragen? Den Anzügen mag es an Ästhetik mangeln, aber sie zu haben, das zählt. Denn die Textilien haben das Schwimmen unerhört schneller gemacht. Man könnte auch sagen: Sie lenken von der Dopingfrage ab, das ist praktisch in diesen Tagen.
Als die Anzüge im Februar erstmals getragen wurden, ging die Weltrekord-Hatz wie versprochen weiter: Nathalie Coughlin, Kirsty Coventry und Eamon Sullivan brachen die Bestmarken über 100 und 200 m Rücken und 50 m Crawl – mitten in der Peking-Vorbereitung. So funktioniert Marketing. Erst waren die Anzüge in den USA und in Australien erhältlich, an den EM in Eindhoven werden sie ab Dienstag auch in Europa zu beobachten, ja zu bestaunen sein. Einigen Ausgewählten der 18 Athletinnen und Athleten von Swiss Swimming werden sie zur Verfügung stehen. Auf Landesfarben wird jedoch keine Rücksicht genommen, nur für die USA (rot-blau-weiss) und Australien (grüngelb) wurden eigene Muster kreiert. Sonst ist der Anzug schwarz – selbst für England, obwohl die britische Pentland-Gruppe im Besitz von Speedo ist.
Die USA und Australien haben aber auch speziell viel zur Entwicklung beigetragen. Die Forschungsgruppe von Speedo (sie heisst Aqualab...) wurde von der Nasa, vom Australian Institute of Sport und von einer US-Universität massgeblich unterstützt. Die sportspezifische Sicht deckten Bob Bowman, der Trainer Phelps', und Stephan Widmer ab. Widmer ist Schweizer, aber er lebt seit zwölf Jahren in Australien und ist Trainer der vielfachen Weltmeisterin Lisbeth Lenton. Er sagt: «Ich fände es besser, wenn nur in Badekleid und Badehose geschwommen würde, so wäre wirklich ersichtlich, wie schnell der Mensch im Wasser ist.» Der Weltverband Fina habe die Anzüge aber nun einmal zugelassen, «also müssen wir bei der Entwicklung mitmachen».
Denn natürlich geht das Tragen der Anzüge über die ästhetischen Aspekte von Bademode hinaus. Es stellt sich die Frage: Will der Schwimmsport zusehends von Technologie bestimmt werden? Die Fina sagt ja, immer weitere Weltrekorde sind ihr ja genehm. Der Fortschritt ist vermutlich nicht aufzuhalten, und die Diskussion ist auch nicht neu, wie die August-Ausgabe der «Times» von 1860 beweist. Dort steht: «Das Tragen irgendeiner Bedeckung ist eine schmutzige Praxis – so werden Krankheiten verborgen und der freie Kontakt des Wassers mit der Haut wird verhindert.» Das erstmalige Anziehen von langen Unterhosen hatte damals für Aufregung gesorgt in einem Londoner Bad. Zuvor waren die Briten einfach nackt ins Wasser gestiegen.
Zurück in die Gegenwart: Speedo hatte den Trend zum Ganzkörperanzug 2000 ausgelöst, im selben Jahr zogen andere Anbieter nach. Auch heuer war Speedo früh dran; die Aufmerksamkeit, die dem Schwimmen dank Olympia entgegengebracht wird, soll genutzt werden. Am Montag stellt die italienische Firma Arena ihren Anzug vor, sie ist bei europäischen Schwimmern traditionell gut vertreten. Nike – im Wasser neuerdings ein ernstzunehmender Ausrüster – wird nachziehen müssen, ebenso TYR und Adidas. Letztere rüstet Deutschland aus, was bei den dortigen Athleten regelmässig für Verärgerung sorgt, weil sie sich gegenüber den Speedo-Athleten im Nachteil fühlen, obschon Ian Thorpe einst auch mit Adidas unterwegs war. Neu ist die Präsenz von Anbietern aus dem Triathlon. Blueseventy hat ein Stück gebastelt, dessen Stoff jenem von Neopren-Anzügen ähnelt (die im Becken nicht erlaubt sind) – die Fina liess es zu, obschon sie Auftriebshilfen verbietet und Neopren zweifelsfrei Auftrieb verleiht.
Die Nervosität ist gross, jeder will den besten Anzug. Es gibt Verbände, die nur noch Ausrüsterverträge abschliessen, wenn bezüglich der Marke des Anzugs freie Wahl bleibt. Ist die Aufregung berechtigt? Ganzkörperanzüge machen schneller, das steht fest, aber vielleicht bringt es Phelps' Trainer Bowman ganz gut auf den Punkt, wenn er bemerkt: «Was dich wirklich schnell macht im Wasser? Training.»
Warum viel Stoff schneller ist als Haut
Zuerst imitierten Forscher den Haifisch – nun nehmen sie Plastic
Manche Leute behaupten, Schwimmanzüge würden nur im Kopf schneller machen. Das ist Quatsch. Natürlich reagiert nicht jeder Athlet gleich auf Anzüge, das kommt auf Technik, Wasserlage und Disziplin an. Es lassen sich aber durchaus Vorzüge ausmachen. Etwa die Verringerung des Frontalwiderstands, indem der Körper und die Wasserlage stromlinienförmiger werden; die Verringerung des Wirbelwiderstands, weil Schwingungen des Fettgewebes und Vibrationen der Muskeln gedämpft werden und so die Körperoberfläche ebener wird; oder die Verringerung des Oberflächenwiderstands, der durch das Bremsen des auf der Körperoberfläche strömenden Wassers entsteht – ein ähnlicher Effekt wird mit Badekappen und der Rasur der Körperbehaarung erreicht. Der neue Anzug von Speedo enthält ein Korsett, das den Rumpf stabilisiert, was im Schwimmen auf längeren Strecken wichtig ist. Statt wie früher aus einer «Haifischhaut» besteht der Anzug nun vielerorts aus Plastic. Das Material saugt weniger Wasser auf, was den Anzug leichtermacht. Auch ist er enger als seine Vorgänger. Diese Kompression hält das Fettgewebe beisammen und verhindert, dass Blut in periphere Gegenden strömt – es bleibt in den Muskeln. Und: In der Fabrikation werden nicht mehr 30 Teile zusammengenäht, sondern nur noch deren 3 zusammengeschweisst – das macht den Anzug ebener. (cag.)