Szenekenner
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Jugendsünden
Stellen wir uns ´mal vor, wir hätten früher mehr auf andere gehört. In der Schule wären wir bestimmt viel besser gewesen, wenn wir uns nur ein bisschen mehr Mühe gegeben hätten. Unsere Haut wäre heute tadellos, weil wir – statt ganze Wochen am Strand in der Sonne zu verbringen – mit einem großen Sonnenhut auf dem Kopf und Lichtschutzfaktor 30 auf der Haut die schönsten Tage des Jahres im Schatten verbracht hätten. Wir hätten nie geraucht und schon gar nichts getrunken. Von solch vernünftigen unmenschlichen Exemplaren kenne ich ja einige. Die haben einfach keinen Text zum Thema Jugendsünden. Die haben früher auf Mutti gehört und hören heute auf ihren Mann. Und wenn ich ehrlich bin, sind die mir immer noch hochgradig suspekt. Liegt wohl daran, dass ich meine Fehler auch nach all den Jahren gern noch selbst mache. Im Alltag wie im Sport.
Wir sind wieder in Hamburg. Morgen startet das Rennen über die olympische Distanz und wir holen schon heute unsere Unterlagen. Entgegen aller warnenden Verkehrsschilder parken wir das Auto genau dort, wo wir möchten und stiefeln los. Und weil die Welt eben doch ein Dorf ist, treffen wir nach dreißig Metern in der norddeutschen Millionen-Metropole Mathias. Genau den Mathias, den ich seit 20 Jahren kenne und der immer noch aussieht wie Balou der Bär. Ich bin auch ziemlich sicher, dass es sich ganz ähnlich anfühlt, wenn Balou einen umarmt. Einmal in all den Jahren sah er nicht aus wie Balou, aber da war er leichter als 120 Kilo und fürchterlich griesgrämig. Schon schön, dass er wieder ganz der Alte ist. Da wir ohnehin alle am nächsten Nachmittag bei gemeinsamen Freunden eingeladen sind, machen wir´s kurz und ziehen weiter.
Stunden später gehen wir zum Auto zurück. Der kürzeste Weg dorthin führt uns durch eine Einkaufspassage, in der Ex-Tennis-Profi Michael Stich auf einer Bühne steht und vor nicht mehr als 50 Zuschauern ein Interview gibt. Spontan muss ich an die letzten verwegenen Auftritte von Rex Guildo in irgendwelchen Baumärkten denken. Aber so schlimm ist es dann doch nicht. Und so dreht sich denn das Gespräch mit dem von jeher etwas steifen Elmshorner leider nur um Tennis. Dabei gibt es doch so viele interessante Fragen, die doch endlich ´mal jemand dem Stich stellen sollte. Wie war das denn damals als er beim Gewinn des Hamburger Rothenbaumturniers ergriffen ins Mikro heulte: „Jessica, ich liebe Dich!“?. Jugendsünde, Hormonstörung oder einfach die Geburtsstunde des Fremdschämens? Ich fürchte, wir werden es nie erfahren. Im Hintergrund steht ein Pappaufsteller mit dem unvermeidbaren Boris Becker und aus dem Jahre 1983 läuft ein Video, in dem Yannick Noah gegen irgendwen spielt. Schnell haben wir uns genug gegruselt und flüchten.
Am nächsten Tag ist alles wie immer. Auch nach Jahren des Ausdauersport-Betreibens habe ich immer noch keine ordentliche Regenjacke. Mein Vater leiht mir eine gelbe Bauarbeiter-Jacke aus dem Jahre 1978, der gelbe Kunststoff bröselt. Retro steht mir, stelle ich fest und mache mich vergnügt auf den Weg Richtung Hamburg. Es schifft und schifft, aber an der Alster sieht der Himmel schon viel freundlicher aus. Jedes Jahr dasselbe. Schwimmen macht Spaß und geht gefühlt schnell um. Radfahren ist in Hamburg eigentlich nie ein Vergnügen, und zum Ende der Strecke merke ich, dass meine linke Wade mich ein wenig piesackt. Was fehlt, ist klar: Grundlage. Und zwar zum Ersten, zum Zweiten und zum Dritten. Das ist wie Vokabeln lernen: mäßig, aber regelmäßig. Und, habe ich das damals gemacht? Nein, natürlich nicht. Da wurde kurz vor Klausur alles was ging in die Birne gehämmert. Ungefähr so wie ich gerade versuche, mein Rad zu treten. So ist das mit mir und meinem Leben. Selten einfach, aber nie langweilig-
Beim Laufen habe ich dann genügend Zeit, mir Gedanken über einen schnellen Grundlagen-Aufbau zu machen, damit ich bei der Mitteldistanz Ende August nach 80 Kilometern nicht einfach stumm vom Rad falle. Und während ich erste Hochrechnungen im Kopf durchführe, wie, wann und wo ich wie viele Kilometer zusammen radeln kann, überhole ich einen jungen und ganz in weiß gestylten Athleten des Typs „Latin Lover“, der vermutlich nur deshalb gerade in einen Walking-Schritt verfallen ist, weil er den fabelhaften Ausblick auf die Alster so richtig und in vollen Zügen genießen möchte. Kaum bin ich an ihm vorbei gezockelt, wehrt er sich zuerst verbal mit einem „Das geht ja nun ´mal ´gar nicht“, um gleich danach in Trab zu fallen und zu mir aufzuschließen. „Das ist ja so als wenn Chrissie Wellington Lothar Leder überholt“ meint er lachend. „Nee,“ sage ich nach einem kurzen Seitenblick auf seinen Namen unterhalb der Startnummer, „aber da ich deine Mutter sein könnte, solltest du das auf keinen Fall auf dir sitzen lassen.“ Das zieht. Leider aber nur für die nächsten 200 Meter. Meiner Ankündigung „das joggen wir jetzt heim“ hatte ich eine kleine Tempo-Verschärfung folgen lassen. Als Folge hatte Attila mir zum Abschied auf die Schulter geklopft und nur gemeint: „Lauf nur, wir sehen uns im Ziel.“ Schade.
Den Rest des Tages verbringen wir dann bei Freunden und warten auf Mathias und seine Frau. Als sie endlich kommen, streckt Mathias beide Arme über den Kopf Richtung Decke und ruft: „Leute, ich war so schlecht, das glaubt ihr nicht.“ Dass er 3:50 Stunden gebraucht hat, will erst keiner glauben, aber dann sehen wir´s ein und fallen vor Lachen fast vom Stuhl. Kaum ist die Geschichte des größten Misserfolges erzählt, lehnt er sich über den Tisch, grinst mich breit an und fragt dröhnend: „Und nun rate ´mal, wen ich vor einem Monat auf der Kieler Woche getroffen habe?!!! Naaaaa???“ „Wenn du so fragst, kann´s ja nur einer sein“, antworte ich und wieder lachen alle. Nur mein Mann schaut verständnislos in die Runde. Ich lege ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm, hauche ihm einen Kuss auf die Wange und sage lapidar: „Musst du nicht kennen, Schatz. Jugendsünden.“
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