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Modernes Maerchen (extra zu Weihnachten) - Erich Kästner
Modernes Maerchen
Sie waren so sehr ineinander verliebt,
wie es das nur noch in Buechern gibt.
Sie hatte kein Geld. Und er hatte keins.
Da machten sie Hochzeit und lachten sich eins.
Er war ohne Amt. So blieben sie arm.
Und speisten zweimal in der Woche warm.
Er nannte sie trotzdem: 'Mein Schmetterling.'
Sie schenkte ihm Kinder, so oft es nur ging.
Sie wohnten moebliert und waren nie krank.
Die Kinder schliefen im Kleiderschrank.
Zu Weihnachten malten sie kurzerhand
Geschenke mit Buntstiften an die Wand.
Und assen Brot, als waer's Konfekt,
und spielten: Wie Gaensebraten schmeckt.
Dergleichen staerkt wohl die Phantasie.
Drum wurde der Mann, blitzblatz! ein Genie.
Schrieb schoene Romane. Verdiente viel Geld
und wurde der reichste Mann auf der Welt.
Erst waren sie stolz. Doch dann tat's ihnen leid,
denn der Reichtum schadet der Heiterkeit.
Sie schenkten das Geld einem Waisenkind.
Und wenn sie nicht gestorben sind ...
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Das Leben ist ein Zeichnen ohne die Korrekturmöglichkeiten des Radiergummis.
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