"Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Weil du mir deine Adresse nicht gegeben hast (vermutlich aus Angst vor Stalkerinnen, die auf schnelle Männer in Großen Städten stehen), musst du nun mit elektronischen Glückwünschen vorlieb nehmen. Sonst hättest du welche auf Papier bekommen.
Weil es so auch nicht mit einem Päckchen geht, schreibe ich dir als kleines Geburtstagspräsent drei kleine Episoden meiner ersten und bisher einzigen Begegnung mit New York auf.
Es begab sich im Jahr 1995, dass ich mit meinem Vater zum 95. Geburtstag einer Verwandten in die USA reiste. Nach zwei sonnigen Wochen im Westen (wo wir zunächst Freunde meiner Eltern in LA und Bekannte in Santa Barbara besucht hatten), flogen wir nach New York und fuhren mit dem Zug in die City, wo wir dann mit unserem Gepäck standen. Meines jedenfalls war dank der günstigen Preise für Klamotten und Pferdezubehör mittlerweile beträchtlich angewachsen, so dass ich einen ebenfalls günstig erworbenen und prall gefüllten Riesenrucksack zusätzlich zu schleppen hatte. Das Hotel war nur ein paar Blocks entfernt wie ich feststellte und so setzte ich gegen den Willen meines Vaters durch, dass wir die paar Meter zu Fuß gehen. Denn ich hasse Taxi fahren im Allgemeinen und ein Blick auf den verrückten Verkehr dort reichte aus, um sicher zu sein, dass ich Taxi fahren in New York im Speziellen hassen würde. Wir gingen also los, beladen mit Gepäck, das wir tragen mussten, denn wir hatten keine Koffer auf Rollen. Wozu auch? Sonst reisten wir immer mit dem Auto und außerdem waren die Koffer doch noch keine 40 Jahre alt, wozu da neue kaufen, nur wegen ein paar Rollen drunter? Ich sollte an diesem Tag etwas über die Dimensionen dieser Stadt lernen und werde nie mehr die Distanz von acht oder zehn Blocks unterschätzen! Unsere Arme wurden länger und länger und schmerzten immer mehr. Dazu kam, dass wir von den Bewohnern der Stadt angeschaut wurden als hätten wir nicht mehr alle Tassen im Schrank, weil wir einen halben Umzugswagen voll Koffer zu Fuß durch die Straßen schleppten. Als wir nach ca. eineinhalb Stunden endlich am Hotel (einer völligen Absteige) angekommen waren, waren wir fix und fertig und ich habe bis heute diesen Tag und die folgenden, an denen mein Vater seine Schulter vor Schmerzen nicht mehr bewegen konnte,als den Zeitpunkt in Erinnerung, an dem mir endgültig klar wurde, dass mein Vater nicht mehr der strahlende Superheld meiner Kindheit ist, sonder n dass er seinen Zenit längst überschritten hat, alt wird und mich eines gar nicht mehr so fernen Tages allein auf dieser Welt zurück lassen wird. Während ich dies schreibe, wird die Erinnerung an diese damals plötzlich auftretende Erkenntnis so wach, dass mir Tränen in die Augen steigen.
Bevor wir nach New York kamen, hatten wir in Berkeley sehr entfernte Verwandte besucht. Einen bekloppten Soziologen und seine noch beklopptere Frau und deren Sohn. Von diesem Erlebnis erzähle ich dir gern ein anderes Mal, wenn du magst, es war eine Begegnung der dritten Art. Auf die Frage, wie viele Kinder er denn habe, antwortete mein Vater: "Zwei. Außer Anna habe ich noch eine Sohn Konrad, der nicht mit dabei ist." Diese falsche Antwort hat mir die Sprache verschlagen. Richtig wäre gewesen: "Drei. Außer Anna habe ich noch einen Sohn Konrad, der nicht mit dabei ist und einen Sohn Peter, der 1986 im Alter von 21 Jahren an seiner Drogenabhängigkeit gestorben ist." Ich habe in dem Moment nichts dazu gesagt, aber es gärte in mir und als wir durch New York liefen, kam ich irgendwie auf das Thema und Sekunden später standen wir mitten auf einer Kreuzung und ich schrie meinen Vater an, weil ich so empört und wütend und verletzt war, dass er Peter verleugnet hatte. Komischerweise guckten die New Yorker da weniger blöd, wie Tage zuvor, als wir das Gepäck zu Fuß durch die Stadt schleppten. Scheint da normal zu sein, dass man heulend und schreiend auf der Straße steht. Ich ließ meinen Vater dann einfach stehen und rannte los, weg von ihm, lief immer weiter und weiter, bis ich irgendwann gar nicht mehr wußte, wo ich war und ängstlich wurde. Stunden später traf ich meinen Vater in unserer Absteige wieder, wo er verrückt vor Angst um mich gewartet hatte, sich entschuldigte und zu erklären versuchte, warum er so geantwortet hatte.
Wir liefen durch die Straßen von New York und an einer Ampel, die rot zeigte blieb ich stehen und vor mir rauchte der Verkehr auf der ca. 1000spurigen Straße vorbei und von hinten kamen immer mehr und mehr Menschen, die von hinten nachdrückten, wie bei einem Konzert, wo man in der ersten Reihe steht und denkt, die Arschlöcher hinten sollen doch mal mit der Schieberei aufhören. Auf einmal eine Lücke im Verkehrsstrom und ehe ich mich versehe, werde ich grob mitten auf die Straße geschubst und angepöbelt, warum ich denn stehen bleibe, wenn doch alles frei ist. Unter Lebensgefahr rette ich mich auf die andere Seite und achte von da an darauf, an roten Ampeln nicht mehr in der ersten Reihe zu stehen."
(Namen von der Redaktion geaendert)