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Beim Wort "Interpretieren" muss man genauer hinsehen: Man kann etwas herauslesen, aber auch etwas hineinlesen.
Nach meiner Beobachtung versuchen die meisten Leute eine Art Grundgedanken aus der Bibel zu destillieren. Diesen Grundgedanken lesen sie aber nicht aus der Bibel heraus, sondern lesen ihn in die Bibel hinein. Etwa den Humanismus (das Wohl des Menschen als Maßstab) oder die Eigenliebe (Gott liebt mich).
Sie bügeln damit den krassen Widerspruch zwischen der alten Bibel und der modernen Ethik aus. Sie nehmen einfach an, Religionsfreiheit, Toleranz, Freiheit, Gerechtigkeit und Friede stünden in der Bibel (oder wären sogar die Essenz der Bibel). Sie denken, Jesus wäre eine Art Menschenrechtler gewesen, ein Sozial-Revolutionär.
In den Kirchen (oder im "Wort zum Sonntag") werden sehr geschickt jene Worte zitiert (meist sind es nichtmal ganz Sätze), die diese Illusion fördern.
Die "normalen Gläubigen" können sich daher nicht vorstellen, dass die Bibel (oder gar Jesus) den genannten Werten widersprechen könnte.
Ich habe zahlreiche Berichte von Ex-Gläubigen gehört/gelesen, die sagen, sie hätten zwar die vielen grausigen Bibelstellen gelesen, aber gar nicht verinnerlicht, sondern die Worte wären einfach an ihnen vorbeigerauscht, bis dann endlich eine schön klingende Stelle kam. Erst als sie den Glauben ablegten, konnten sie zur Kenntnis nehmen, was sie zuvor einfach ignoriert hatten. Sie konnten herauslesen, anstatt nur hineinzulesen.
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