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Zitat von merz
Was nimmt in einer rein weltlich geprägten Kultur diese Funktionen auf?
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Ich finde diese Frage sehr berechtigt und interessant, und ich meine, dass eine Gesellschaft darauf eine zutreffende Antwort finden muss.
Allerdings: Die Religionen geben darauf keine
zutreffenden Antworten, sondern nur Antworten. Deswegen werden sie abgelöst. Nicht etwa, weil bösartige Atheisten einen "Feldzug gegen die Kirche" führen, wie hier schon zahlreich behauptet wurde.
Wie beantwortet nun eine moderne Gesellschaft die Fragen, Ängste oder Hoffnungen? Das tut sie nicht mit einer einzigen großen These ("Gott ist alles"), sondern mit vielen kleineren Dingen.
Angst vor Armut wird nicht durch göttliche Gnade genommen, sondern durch unsere Wirtschaft, das Bildungssystem, unser weitreichendes Sozialsystem, aber auch durch unsere traditionelle Lebensführung (Schule - Ausbildung - Beruf - Rente). Das ist ein komplexes, aber funktionierendes Räderwerk, und es ist für den Einzelnen halbwegs durchschaubar und berechenbar. Jeder kann ungefähr abschätzen: Wenn ich nur rumhänge, habe ich kein Geld (Bischöfe ausgenommen). Jeder sieht einen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung.
Die
Angst vor Naturgewalten haben wir gebändigt, indem wir die Natur verstehen. Denn das grenzt die Angst auf ein vernünftiges Maß ein. Wir verstehen, dass die Natur uns nicht "jagt", so wie uns ein Raubtier jagt. Sie bestraft nicht. Sondern bei Gewitter stellen wir uns nicht auf einen Acker, denn das wäre dumm. Unsere Technik beweist, dass wir die Natur effektiv bändigen können. Im Winter drehen wir die Heizung auf. Der Wetterbericht ist kein Gottesdienst, sondern eine Erläuterung physikalischer Vorgänge: Man kann auf dem Satellitenfilm sehen, wie kalte und warme Luft über Europa hinweg ziehen.
Angst vor Willkür wird durch unser halbwegs gerechtes und berechenbares Rechtssystem genommen. Es klagt nicht nur an, sondern es schützt auch.
Die moderne Medizin hat die
Angst vor Krankheiten stark reduziert. Erstens gibt es überhaupt weniger Krankheiten, z.B. wurde Kindersterblichkeit im Westen dramatisch reduziert. Zweitens sind die meisten Krankheiten behandelbar und man stirbt nicht mehr wegen einer Grippe oder wegen einer großen Wunde, die sich weiter infiziert. Drittens ist auch das Prinzip von Ursache und Wirkung verstanden worden. Es ist kein unerklärliches Wunder. Wir sehen, dass technischer und wissenschaftlicher Fortschritt sich in medizinischem Fortschritt auszahlt. Es geht voran. Wir haben es in der Hand.
Die
Angst vor Gemeinheit haben wir durch moderne Regeln des Zusammenlebens gebändigt. Etwa: "Leben und leben lassen". Oder: "Was Du nicht will, was man Dir tu', das füg' auch keinem anderen zu". (Oder mein Favorit aus Pippi Langstrumpf:
"Halt den Mund und sing ein Lied".) Diese weisen Tugenden wurden vom Atheismus zurückerobert.
Das ist besser als es zu allen Zeiten war. Es ist vor allem besser, als es zu den besonders religiösen Zeiten war. Und es wird noch besser werden.
Die Menschen haben sich befreit. Ein Bischof könnte einwenden:
"Aber was ist mit unseren Seelen?" -- Und ein Atheist könnte antworten: "Auch diese werden wir befreien, und wir werden dort den gleichen Zugewinn an Einsicht und Zufriedenheit bekommen".